ISTANBUL/DAMASKUS (dpa) — Noch immer suchen Helfer nach Menschen unter den Trümmern. Doch mit jeder Stunde sinkt die Hoffnung, auf Überle­ben­de zu treffen. Die eisigen Tempe­ra­tu­ren sind vor allem für Kinder bedrohlich.

Die Zahl der Erdbe­ben­to­ten in der Türkei und Syrien steigt unauf­hör­lich weiter, doch auch fünf Tage nach der Katastro­phe bergen Rettungs­kräf­te noch immer verein­zelt Überlebende.

Inzwi­schen zählen die Behör­den allein in der Türkei 20.213 Tote und 80.052 Verletz­te, wie das Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um am Freitag bekannt­gab. Konnten anfangs noch zahllo­se Verschüt­te­te aus den Trümmern einge­stürz­ter Gebäu­de geret­tet werden, bergen Helfer inzwi­schen fast nur noch Leichen: Laut Vize-Präsi­dent Fuat Oktay wurden in den vergan­ge­nen 24 Stunden landes­weit nur noch 67 Menschen lebend aus dem Schutt gezogen.

Doch es gibt sie noch, die berüh­ren­den Einzel­schick­sa­le mit glück­li­chem Ende. So zogen die Rettungs­kräf­te in Kahra­man­ma­ras 112 Stunden nach dem Beben einen 46 Jahre alten Mann aus der Ruine eines sieben­stö­cki­gen Gebäu­des, wie die staat­li­che Nachrich­ten­agen­tur Anado­lu berich­te­te. In der Provinz Gaziantep wurde demnach eine schwan­ge­re Frau nach 115 bangen Stunden zurück ans Tages­licht geholt. Ebenfalls in Gaziantep bargen Helfer ein neunjäh­ri­ges Mädchen nach 108 Stunden aus dem Schutt — ihre beiden Eltern und ihre Schwes­ter waren da jedoch schon tot.

Fast fünf Tage nach den verhee­ren­den Erdbe­ben haben Rettungs­kräf­te in der Türkei auch einen neunjäh­ri­gen Jungen aus den Trümmern gebor­gen. Der Junge namens Ridban sei in Kahra­man­ma­raş rund 120 Stunden in einem einge­stürz­ten Haus einge­schlos­sen gewesen, teilte die israe­li­sche Armee am Samstag mit. Er sei nach seinem Vater und seiner 14-jähri­gen Schwes­ter das dritte Mitglied einer Familie, das von dem israe­li­schen Team gebor­gen worden sei. Seine Mutter sei dagegen tot aufge­fun­den worden. Die Rettung des Jungen sei am Freitag­abend nach einem schwie­ri­gen Einsatz gelun­gen, der mehr als 24 Stunden gedau­ert habe.

In Syrien befrei­ten Retter mehr als vier Tage nach dem Beben zwei Menschen in der Küsten­stadt Dschab­la aus einem einge­stürz­ten Wohnhaus. Mutter und Sohn, die laut Medien 60 und 22 Jahre alt sind, seien nach ihrer Rettung am Freitag­abend in ein Kranken­haus gekom­men. Beide erlit­ten demnach mehre­re Knochen­brü­che. Ihr gesund­heit­li­cher Zustand sei ansons­ten aber stabil.

Hoffen auf Wunder in den Trümmern

Beider­seits der Grenze kämpfen die Retter noch um jedes Leben. «Wir machen weiter, bis wir sicher sind, dass es keine Überle­ben­den mehr gibt», zitier­te eine Repor­te­rin des staat­li­chen türki­schen Ferseh­sen­ders TRT World am Freitag einen Sprecher der Einsatzkräfte.

Und tatsäch­lich gibt es noch Berich­te über schier unglaub­li­che Rettun­gen. In der Südost­tür­kei wurde eine sechs­köp­fi­ge Familie nach 102 Stunden unter den Trümmern lebend gebor­gen. Die Eltern mit ihren Kindern zwischen 15 und 24 Jahren seien ins Kranken­haus gebracht worden, melde­te die staat­li­che Nachrich­ten­agen­tur Anado­lu. Ein Nachbars­paar aus demsel­ben Gebäu­de sei nach 107 Stunden geret­tet worden.

Ebenfalls nach mehr als 100 Stunden wurde ein Zehnjäh­ri­ger aus einem einge­stürz­ten Haus in der Stadt Kahra­man­ma­ras geret­tet, wie das israe­li­sche Militär am Freitag mitteil­te. Die Rettungs­ak­ti­on habe rund eine Stunde gedauert.

Auch Schwei­zer Helfer berich­te­ten von einem Wunder: Sie rette­ten in Hatay am Freitag­mor­gen ein sechs Monate altes Baby und seine Mutter lebend aus den Trümmern. Dort war das Schwei­ze­ri­sche Korps für humani­tä­re Hilfe (SKH) zusam­men mit lokalen Partnern im Einsatz. Mit Hilfe von Schwei­zer Suchhun­den seien elf Verschüt­te­te lebend geret­tet worden, teilte die SKH-Spreche­rin mit.

Nach so langer Zeit noch Leben­de zu bergen, gleicht einem Wunder. Nur in selte­nen Fällen überlebt ein Mensch mehr als drei Tage ohne Wasser. Hinzu kommen die eisigen Temperaturen.

«Wie lange man in einer solchen Situa­ti­on überle­ben kann, hängt von sehr vielen Fakto­ren ab: Wetter, Wasser­zu­fuhr, körper­li­che Konsti­tu­ti­on», sagt Profes­sor Bernd Bötti­ger, Bundes­arzt des Deutschen Roten Kreuzes und Direk­tor an der Unikli­nik Köln. «Die Umwelt­be­din­gun­gen der winter­li­chen Tempe­ra­tu­ren treffen vor allem Kinder. Sie kühlen schnel­ler aus als Erwachsene.»

Hilfs­flü­ge der Bundeswehr

Aus dem Ausland rollt nach dem Beben immer mehr Hilfe an. Mehr als 7000 Helfer aus 61 Ländern seien in der Türkei, teilte das Außen­mi­nis­te­ri­um in Ankara am Freitag mit. Die Nato teilte mit, mobile Notun­ter­künf­te zu schicken, die mit Heizun­gen, Strom­ge­ne­ra­to­ren und medizi­ni­schen Behand­lungs­be­rei­chen ausge­stat­tet würden. Aus Itali­en ist ein Marine­schiff mit Hilfs­gü­tern und einem Feldla­za­rett auf dem Weg, es verfügt über vier Inten­siv­bet­ten. Das Deutsche Rote Kreuz flog am Freitag unter anderem Decken, Zelte und Isolier­mat­ten in die Türkei.

Die USA wollen für die Türkei und Syrien 85 Millio­nen Dollar (etwa 79 Millio­nen Euro) bereit­stel­len. Die Hilfe solle unter anderem Lebens­mit­tel, Unter­künf­te, Medizin und Versor­gung von Famili­en umfas­sen, schrieb US-Präsi­dent Joe Biden am Donners­tag (Ortszeit) auf Twitter. Die Weltbank kündig­te an, der Türkei Unter­stüt­zung in Höhe von 1,78 Milli­ar­den US-Dollar (1,65 Milli­ar­den Euro) zur Verfü­gung zu stellen.

Auch Deutsch­land sagte weite­re Hilfs­lie­fe­run­gen zu. «Wir stehen an der Seite der Türkei», sagte Bundes­in­nen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser am Freitag am Militär­flug­ha­fen Wunstorf bei Hanno­ver, den sie gemein­sam mit Bundes­ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Boris Pisto­ri­us (beide SPD) besuch­te. «Wir fliegen so lange wie nötig», beton­te Pisto­ri­us. «Das wird jetzt in den nächs­ten Tagen so weiter­ge­hen.» Gelie­fert werden vor allem Zelte, Betten, Schlaf­sä­cke, Decken, Heizge­rä­te und Generatoren.

Viele Nachbe­ben in der Region

Das erste Beben hatte am frühen Montag­mor­gen mit einer Stärke 7,7 das Grenz­ge­biet erschüt­tert. Am Mittag folgte dann ein weite­res Beben der Stärke 7,6 in der Region. Bis Samstag­mor­gen hat es 1891 Nachbe­ben in der Region gegeben. Das teilte die türki­schen Katastro­phen­schutz­be­hör­de Afad mit.

Nach Angaben der türki­schen Katastro­phen­schutz­be­hör­de Afad gab es seitdem mehr als 1000 Nachbeben.

Überle­ben­de, die vorüber­ge­hend zu Verwand­ten in Deutsch­land wollen, brauchen als Angehö­ri­ge von Dritt­staa­ten zur Einrei­se ein Visum. Unter anderem Bundes­agrar­mi­nis­ter Cem Özdemir (Grüne), die Türki­sche Gemein­de in Deutsch­land (TGD) sowie Grünen- und SPD-Abgeord­ne­te aus Bund und Ländern dringen auf rasche Erleich­te­run­gen. Die Bundes­re­gie­rung stell­te eine «pragma­ti­sche Lösung» für Visa in Aussicht.

Präsi­dent Assad und seine Frau Asma besuch­ten am Freitag in einer Klinik in Aleppo Opfer des Erdbe­bens, wie die syrische Präsi­dent­schaft mitteil­te. Sie veröf­fent­lich­te auch Fotos, die die beiden am Kranken­bett von Verletz­ten zeigen.

Assad geht in dem Bürger­krieg, der 2011 ausbrach, brutal gegen die eigene Bevöl­ke­rung vor. Ihm werden Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit angelas­tet, darun­ter der Einsatz von Chemie­waf­fen. Seine Regie­rung beherrscht inzwi­schen wieder rund zwei Drittel des zersplit­ter­ten Landes — auch Aleppo.

Lage in Syrien politisch erschwert

Das UN-Flücht­lings­hilfs­werk (UNHCR) stellt sich darauf ein, dass in Syrien fast 5,4 Millio­nen Menschen Hilfe bei Unter­künf­ten benöti­gen. Schwie­rig ist für die Helfer vor allem die politi­sche Lage in Syrien. Das Problem sei, dass die Regie­rung und ihre Truppen zuletzt keine humani­tä­re Hilfe in das vom Bürger­krieg zerrüt­te­te Land gelas­sen hätten, sagte die deutsche Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock (Grüne) im WDR-Radio.

Nach Angaben der UN-Organi­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM) war am Donners­tag­abend der erste aus der Türkei geschick­te UN-Konvoi aus sechs Lastwa­gen in der Rebel­len­re­gi­on einge­trof­fen. An Bord waren Decken, Matrat­zen, Zelte, Solar­lam­pen und anderes für mindes­tens 5000 Menschen an Bord. Ein zweiter Konvoi mit 14 Lastwa­gen überquer­te am Freitag­mor­gen die Grenze und war auf dem Weg nach Idlib, wie ein IOM-Sprecher in Genf sagte.

Von Mirjam Schmitt und Cindy Riechau, dpa