GENF (dpa) — UN-General­se­kre­tär Guter­res hatte gehofft, dass das weltbe­dro­hen­de Corona­vi­rus die Menschen wachrüt­telt und Konflik­te beendet werden. Ein Trugschluss, wie der neue UNHCR-Flücht­lings­be­richt zeigt.

Ungeach­tet der Corona-Pande­mie sind im vergan­ge­nen Jahr weltweit so viele Menschen auf der Flucht gewesen wie nie zuvor. Ende 2020 waren praktisch so viele Menschen wegen Konflik­ten, Verfol­gung und Gewalt aus ihrer Heimat vertrie­ben wie Deutsch­land Einwoh­ner hat.

Das UN-Flücht­lings­hilfs­werk (UNHCR) sprach in Genf von 82,4 Millio­nen. Das waren vier Prozent mehr als 2019 und doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Auch der Klima­wan­del treibe immer mehr Menschen in die Flucht, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr überle­ben können, berich­te­te UNHCR.

«Hinter jeder Zahl steht eine Person, eine Geschich­te der Vertrei­bung, Enteig­nung und des Leids», sagte der Hochkom­mis­sar für Flücht­lin­ge, Filip­po Grandi. «Sie verdie­nen unsere Aufmerk­sam­keit und unsere Unter­stüt­zung, nicht nur durch humani­tä­re Hilfe, sondern auch dadurch, dass wir eine Lösung für ihre Not finden.»

Grenzen wegen Pande­mie zu

Weil viele Länder in der Pande­mie ihre Grenzen schlos­sen, fanden so wenige Flücht­lin­ge wie seit fast zwei Jahrzehn­ten keine neue Heimat mehr. Nur 34 400 Menschen konnten in 21 Ländern umgesie­delt werden — etwa ein Drittel so viele wie im Jahr davor. Eigent­lich brauch­ten 1,4 Millio­nen Menschen solche Plätze, so das UNHCR.

Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen war im eigenen Land vertrie­ben. Die, die ins Ausland flohen, blieben vor allem in den Nachbar­län­dern. 86 Prozent wurden von Entwick­lungs­län­dern aufge­nom­men. Minder­jäh­ri­ge machen zwar rund 30 Prozent der Weltbe­völ­ke­rung aus, unter den Geflüch­te­ten sind es aber 42 Prozent.

Entwick­lungs­mi­nis­ter: «Trauri­ger Rekord»

Entwick­lungs­mi­nis­ter Gerd Müller (CSU) sprach von einem «trauri­gen Rekord». «Wir dürfen in Europa nicht wegschau­en von dieser drama­ti­schen Entwick­lung. Vor allem die ärmsten Länder leisten die Haupt­last dieser Flücht­lings­kri­se», sagte Müller den Zeitun­gen der «Funke»-Mediengruppe. «85 Prozent der Flücht­lin­ge finden in Entwick­lungs­län­dern Zuflucht, wo die Ernäh­rungs­la­ge ohnehin oft sehr kritisch ist.»

Die Aufnah­me­be­reit­schaft für Flücht­lin­ge ist nicht überall gegeben. Weltweit befür­wor­tet laut einer aktuel­len Online-Umfra­ge des Meinungs­for­schungs­in­sti­tuts Ipsos jeder Zweite Grenz­schlie­ßun­gen für Geflüch­te­te im eigenen Land. Am größten ist die Zustim­mung für diese Maßnah­me demnach in Malay­sia (82 Prozent) und der Türkei (75 Prozent), am niedrigs­ten in Polen (34 Prozent), Japan (38 Prozent) und in den USA (41 Prozent).

Hierzu­lan­de sind laut Umfra­ge mehr als vier von zehn Befrag­ten (42 Prozent) der Ansicht, dass Deutsch­land seine Grenzen für Flücht­lin­ge derzeit vollstän­dig schlie­ßen sollte — ein Anstieg um drei Prozent­punk­te seit dem letzten Jahr, der mit der Corona-Pande­mie zusam­men­hän­gen könnte. Denn generell halten es 71 Prozent der Bundes­bür­ger für richtig, dass Menschen in Deutsch­land Zuflucht finden können, um vor Krieg und Verfol­gung zu fliehen.

Wenig Anzei­chen zur Verbesserung

Grandi sieht wenig Anzei­chen für eine Verbes­se­rung der Lage. Keine der alten Krisen — Syrien, Afgha­ni­stan, Venezue­la — sei gelöst. Trotz Aufru­fen etwa von UN-General­se­kre­tär António Guter­res, angesichts der globa­len Gesund­heits­be­dro­hung durch das Corona­vi­rus Konflik­te zu beenden und als Mensch­heit zusam­men­zu­rü­cken, seien neue Krisen ausge­bro­chen, etwa in der Tigray-Region Äthio­pi­ens oder im Norden Mosam­biks. Die desola­te Lage in manchen Ländern — darun­ter Südsu­dan, Syrien und die Zentral­afri­ka­ni­schen Republik — droht nach UNHCR-Angaben sogar zu einer Hungers­not zu werden.

Die Lösun­gen für Krisen, die Menschen in die Flucht treiben, müssten natür­lich in den Heimat­län­dern der Flüch­ten­den gefun­den werden, sagte Grandi. Aber in der Zwischen­zeit sei Solida­ri­tät gefragt. In Zeiten von Corona sei das schwer gewor­den. «Dass Menschen sich von A nach B bewegen, wird heute als Bedro­hung angese­hen, als lebens­be­droh­lich sogar, weil sich das Virus mit den Menschen bewegt. Aber für dieje­ni­gen, die vor Konflikt und Verfol­gung flüch­ten, bedeu­tet das Leben», sagte er. Die Zahl der Geflüch­te­ten sei hoch, aber die Welt sei in der Lage, ihnen zu helfen. Mauern zu errich­ten oder Boote auf hoher See zurück­zu­schi­cken, löse die Proble­me nicht.

Deutsch­land bietet 1,2 Millio­nen Menschen Schutz

Unter den Aufnah­me­län­dern gehört Deutsch­land zu den großzü­gigs­ten: Es bot nach den Zahlen des UNHCR 1,2 Millio­nen Menschen Schutz. Doch es gibt Länder, die deutlich mehr Flücht­li­ne aufnehmen:

Türkei (3,7 Millionen)
Kolum­bi­en (1,7 Millionen)
Pakistan (1,4 Millionen)
Uganda (1,4 Millionen).

Mehr als Zweidrit­tel der ins Ausland Geflo­he­nen kamen aus nur fünf Ländern:

Syrien (6,7 Millionen)
Venezue­la (4 Millionen)
Afgha­ni­stan (2,6 Millionen)
Südsu­dan (2,2 Millionen)
Myanmar (1,1 Millionen).