GREIZ/BERLIN (dpa) — Hundert­tau­sen­de Menschen aus der Ukrai­ne suchen in Deutsch­land Zuflucht. Es gilt die Regel: Wo schon viele sind, wollen noch mehr hin. Für Bürger­meis­ter und Landrä­te ist das ein Problem.

Da gab es lange Gesich­ter im ostthü­rin­gi­schen Greiz. Eigent­lich hätte vorigen Donners­tag ein Bus mit 50 Ukrai­ne-Flücht­lin­gen ankom­men sollen, erzählt Landrä­tin Marti­na Schweinsburg.

Alles sei vorbe­rei­tet gewesen, Ehren­amt­li­che hätten sich extra frei genom­men. Was dann nicht kam, war der Bus. Angeru­fen habe niemand, ärgert sich Schweins­burg. Irgend­wann am späten Abend seien die Helfer unver­rich­te­ter Dinge abgezogen.

Während sich Metro­po­len wie Berlin wegen der vielen Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne schon am Limit sehen, kommen vergleichs­wei­se wenige in unbekann­te Orte in der Fläche — Greiz ist kein Einzel­fall. So empfing etwa auch Offen­burg in Baden-Württem­berg zunächst viel weniger Menschen als angekün­digt. Im fränki­schen Diepers­dorf wollten einige Geflüch­te­te gar nicht erst aus dem Bus ausstei­gen. Dabei gäbe es an einigen kleine­ren Orten auch mittel­fris­tig Chancen — leere Wohnun­gen und freie Stellen, gerade in Ostdeutschland.

«Die Vertei­lung läuft nicht rund»

«Der Prozess der Vertei­lung der Vertrie­be­nen aus der Ukrai­ne über den Bund läuft immer noch nicht rund», sagt der Präsi­dent des Deutschen Landkreis­tags, Reinhard Sager. Wenn Busse mit viel weniger Menschen einträ­fen als erwar­tet, erschwe­re dies die Planung. Ehren­amt­li­che Helfer seien frustriert.

Warum diese Unwucht? Nach wie vor fehlt den Behör­den der Überblick, wie viele Menschen aus der Ukrai­ne hier sind und wo sie unter­kom­men. Bis Diens­tag wurden rund 278.000 Flücht­lin­ge von der Bundes­po­li­zei festge­stellt, meist Frauen, Kinder und ältere Menschen. Doch alle gehen von viel höheren Zahlen aus. Denn Menschen mit ukrai­ni­schem Pass können ohne Visum einrei­sen und ohne sich anzumel­den 90 Tage bleiben.

Viele lassen sich erst regis­trie­ren, wenn sie Hilfe bei Unter­brin­gung oder Versor­gung brauchen oder eine Arbeits­er­laub­nis. Bis Freitag waren beim Bundes­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (Bamf) erst etwa 48.000 ukrai­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge als Schutz­su­chen­de erfasst, wie eine Spreche­rin des Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­ums mitteilt.

Die Anzie­hungs­kraft von Berlin

Berlins Regie­ren­de Bürger­meis­te­rin Franzis­ka Giffey schlug schon Mitte März Alarm, weil Zehntau­sen­de per Bus, Bahn oder Auto in die Haupt­stadt kamen und man mit dem Aufstel­len von Notbet­ten kaum noch nachkam. Bis Anfang dieser Woche brach­te die Landes­ver­wal­tung 24.000 Geflüch­te­te vorläu­fig unter — hinzu kommen Tausen­de, die privat in Gäste­zim­mern oder auf Sofas kampie­ren. Mehr als 16.000 Ukrai­ne-Flücht­lin­ge bekamen in Berlin bereits Sozialleistungen.

Inzwi­schen gilt aber: 95 Prozent der Ankom­men­den sollen auf andere Orte der Republik verteilt werden. «Es läuft viel besser», sagte Giffey jetzt zu «Bild». «Aller­dings erleben wir es nach wie vor, dass sich Geflüch­te­te eigen­stän­dig auf den Weg machen und auch wieder zurück nach Berlin kommen. Die Anzie­hungs­kraft der Stadt ist riesig.» Aufre­gung gab es, als am Montag 120 Flücht­lin­ge aus einem Hostel in Berlin-Lichten­berg auf andere Bundes­län­der verteilt werden sollten. Der Berli­ner CDU-Abgeord­ne­te Danny Freimark warf dem Senat vor, herzlos zu handeln. Die Menschen wollten nicht weg.

Viele hoffen auf baldi­ge Rückkehr

Einige der vor dem Krieg geflo­he­nen Menschen haben sich nach einigen Tagen schon etwas einge­lebt und scheu­en einen neuen Aufbruch. Andere hängen an der Hoffnung, bald zurück­zu­kön­nen. «Ich glaube, es ist ein psycho­lo­gi­sches Moment, so nah wie möglich in der Nähe der Grenze zu bleiben», sagt Sachsen-Anhalts Innen­mi­nis­te­rin Tamara Zieschang (CDU).

Einiger­ma­ßen bekann­te Orte haben aber wohl einfach mehr Zugkraft. Das hänge nicht nur damit zusam­men, dass in Städten wie Chemnitz, Dresden und Leipzig schon viele Ukrai­ner leben, sagt die Präsi­den­tin der Sächsi­schen Landes­di­rek­ti­on, Regina Kraus­haar. Manche Vertrie­be­ne fürch­te­ten, auf Dauer im ländli­chen Raum festzu­sit­zen. «Wir müssen die Betrof­fe­nen davon überzeu­gen, dass sie nicht nur in Großstäd­ten gut aufge­ho­ben sind», sagt der Sprecher der sächsi­schen Landes­di­rek­ti­on, Holm Felber.

Es geht auch ums Geld

Sachsen-Anhalt hat ähnli­che Erfah­run­gen. Insge­samt sind dort nach Zieschangs Worten schon 15.197 Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner, darun­ter etwa 3000 schul­pflich­ti­ge Kinder. «Wir bemühen uns um eine gewis­se Vertei­lung», sagt die Innen­mi­nis­te­rin. Das passge­nau hinzu­be­kom­men, sei aber allei­ne deswe­gen schwie­rig, weil sehr viele durch priva­te Initia­ti­ve kämen.

Natür­lich geht es für die Kommu­nen auch ums Geld. «Unter­brin­gung, Versor­gung und Integra­ti­on werden nur gelin­gen, wenn Bund und Länder die dauer­haf­te Finan­zie­rung dieser gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Aufga­be sicher­stel­len», sagt Gerd Lands­berg, Haupt­ge­schäfts­füh­rer Deutscher Städte- und Gemein­de­bunds. «Da besteht Handlungs- und Zeitdruck.»

Die nächs­te Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz am 7. April soll eine Einigung bringen, ob die Menschen eher Sozial­leis­tun­gen wie Hartz-IV-Empfän­ger bekom­men sollen oder weiter Leistun­gen wie Asylbe­wer­ber. Auch davon dürfte abhän­gen, wie die Vertei­lung gesteu­ert wird. Denn es gilt grob gesagt: Bei Leistun­gen nach SGB II zahlt der Bund, aber die Empfän­ger dürfen umzie­hen. Für Asylbe­wer­ber gilt indes Ortsbin­dung. Das wäre ein Hebel, Kriegs­flücht­lin­ge dorthin zu bewegen, wo es bezahl­ba­ren Wohnraum, Kitaplät­ze und Jobs gibt.

Geflüch­te­te nutzen ihre Netzwerke

Exper­ten mahnen aber zur Umsicht. 2015 seien Flücht­lin­ge auch in struk­tur­schwa­chen Regio­nen mit überdurch­schnitt­li­chen Arbeits­lo­sen­quo­ten verteilt worden, sagt Migra­ti­ons­exper­te Herbert Brücker vom Nürnber­ger Insti­tut für Arbeits­markt- und Berufs­for­schung. Es sei langfris­tig sinnvol­ler, sie in größe­ren Städten unter­zu­brin­gen, denn dort würden sie schnel­ler in den Arbeits­markt integriert.

«Die Freiheit, sich da anzusie­deln, wo es für sie am passends­ten ist, muss erhal­ten bleiben, weil die Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne dann ihre Netzwer­ke nutzen können», sagt auch Petra Bendel, Vorsit­zen­de des Sachver­stän­di­gen­rats für Integra­ti­on und Migra­ti­on. Wenn verteilt werde, dann gehöre auch eine trans­pa­ren­te Kommu­ni­ka­ti­on dazu — «da hapert es zum Teil noch.» Richtig sei, Integra­ti­ons­maß­nah­men wieder hochzu­fah­ren, denn für viele Geflüch­te­te gebe es kaum Aussicht auf schnel­le Rückkehr in die zerstör­ten Städte der Ukraine.

Einige ostdeut­sche Regio­nen, die lange mit Abwan­de­rung kämpf­ten, könnten dauer­haft ein Zuhau­se bieten. Der Landkreis Greiz jeden­falls hat noch Platz. Bis Montag regis­trier­te er 215 Flücht­lin­ge. «Für 364 Perso­nen haben wir Wohnraum», sagt Landrä­tin Schweinsburg.

Von David Hutzler, Anne-Beatri­ce Clasmann und Verena Schmitt-Rosch­mann, dpa