Die Ärzte­schaft ist wegen der steil steigen­den Corona-Infek­ti­ons­zah­len alarmiert und fordert schär­fe­re Beschrän­kun­gen. Auch die Wirtschaft Druck — aber von der anderen Seite.

BERLIN (dpa) — Vor den Bund-Länder-Beratun­gen am Montag über das weite­re Vorge­hen in der Corona-Pande­mie fordern Medizi­ner wieder schär­fe­re Beschrän­kun­gen. Zugleich warnen sie vor einer Zuspit­zung der Lage im Gesund­heits­we­sen. Aus der Wirtschaft kommen derweil Forde­run­gen nach einem Kurswech­sel in der Corona-Politik.

Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel hatte am Freitag­abend auf die von Bund und Ländern verein­bar­te «Notbrem­se» ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 hinge­wie­sen. «Und wir werden leider auch von dieser Notbrem­se Gebrauch machen müssen», sagte sie nach Beratun­gen mit den Minis­ter­prä­si­den­ten zum weite­ren Vorge­hen beim Impfen. «Ich hätte mir gewünscht, dass wir ohne diese Notbrem­se auskom­men, aber das wird nicht möglich sein, wenn ich mir die Entwick­lung der letzten Tage anschaue.»

Die Gesund­heits­äm­ter melde­ten dem Robert Koch-Insti­tut (RKI) inner­halb eines Tages 16.033 Corona-Neuin­fek­tio­nen. Außer­dem wurden 207 neue Todes­fäl­le inner­halb von 24 Stunden im Zusam­men­hang mit dem Corona­vi­rus gemel­det, wie aus Zahlen des RKI vom Samstag­mor­gen hervor­geht. Am Samstag vergan­ge­ner Woche hatte das RKI binnen eines Tages 12.674 neue Fälle und 239 neue Todes­fäl­le regis­triert. Die Zahl der binnen sieben Tagen gemel­de­ten Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­ner (Sieben-Tage-Inzidenz) lag laut RKI am Samstag­mor­gen bundes­weit bei 99,9 — und damit etwas höher als am Vortag (95,6).

Die Chefin des Chefin des Ärzte­ver­ban­des Marbur­ger Bund, Susan­ne Johna, forder­te: «Es muss defini­tiv die verein­bar­te Notbrem­se gezogen werden, da darf es keine Ausnah­men geben.» Weiter sagte sie der «Neuen Osnabrü­cker Zeitung» (Samstag): «Ich rechne ab Ostern mit einer noch kriti­sche­ren Lage als zum Jahres­wech­sel.» Der Kapazi­täts­puf­fer auf den Inten­siv­sta­tio­nen «wird rasant wegschmel­zen», warnte sie. «Es war unver­ant­wort­lich, in die dritte Welle und die Ausbrei­tung der Mutan­ten hinein auf diese Art zu lockern. Dadurch droht den Klini­ken nun die dritte Extrem­si­tua­ti­on binnen eines Jahres», sagte Johna.

Auch von Inten­siv­me­di­zi­nern kommen nachdrück­li­che Mahnun­gen. Die bundes­wei­te Sieben-Tage-Inzidenz könne ohne Eingrei­fen sehr schnell auf 200 steigen und zu deutlich höheren Inten­siv­pa­ti­en­ten­zah­len führen. «Aus unserer Sicht kann es daher nur eine Rückkehr zum Lockdown vom Febru­ar geben», sagte der Präsi­dent der Deutschen Inter­dis­zi­pli­nä­ren Verei­ni­gung für Inten­siv- und Notfall­me­di­zin (Divi), Gernot Marx, der «Augsbur­ger Allge­mei­nen» (Samstag). «Alles, was man sich jetzt erlaubt, muss man später mit Zins und Zinses­zins bezah­len», warnte Marx.

SPD-Frakti­ons­chef Rolf Mützenich räumte ebenfalls ein: «Bestimm­te Schrit­te müssen eventu­ell auch wieder zurück­ge­nom­men werden.» Aller­dings sollte man nicht nur auf die Inzidenz­wer­te schau­en, auch andere Krite­ri­en müssten berück­sich­tigt werden, sagte Mützenich der «Rheini­schen Post» (Samstag).

Baden-Württem­bergs Minis­ter­prä­si­dent Winfried Kretsch­mann (Grüne) hatte ebenfalls betont, man müsse damit rechnen, «dass Dinge zurück­ge­nom­men und verschärft werden». Thürin­gens Minis­ter­prä­si­dent Bodo Ramelow (Linke) sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Ohne Kontakt­nach­ver­fol­gung und ohne Testen bin ich nicht fürs Öffnen, da bin ich für gar nichts.» Thürin­gen hat bundes­weit die höchs­te Inzidenz.

Die rhein­land-pfälzi­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Malu Dreyer (SPD) sagte der «Neuen Osnabrü­cker Zeitung», zu dem Stufen­plan für Öffnun­gen gehör­ten auch Schlie­ßun­gen, wenn es nötig sei. Dreyer will sich am Montag beim Gipfel dafür einset­zen, «regio­na­le Lösun­gen zu erpro­ben». In Modell­kom­mu­nen oder Landkrei­sen mit einer Inzidenz unter 100, die ein lücken­lo­ses Test- und Kontakt­er­fas­sungs­sys­tem vorwei­sen können, sollten Außen­gas­tro­no­mie, Kultur und Einzel­han­del für Kunden mit einem tages­ak­tu­el­len Corona-Test öffnen können.

Mecklen­burg-Vorpom­merns Minis­ter­prä­si­den­tin Manue­la Schwe­sig (SPD) warf in den ARD-«Tagesthemen» die Frage auf, warum Menschen nach Mallor­ca fliegen dürfen, nicht aber ein Ferien­haus oder eine Ferien­woh­nung an der deutschen Küste nutzen können. Das führe zu Unmut bei Bürgern und in der Touris­mus­bran­che. Wenn Gastro­no­mie und Hotels dicht bleiben sollen, müsse die Bundes­re­gie­rung für zusätz­li­che Wirtschafts­hil­fen sorgen.

Arbeit­ge­ber­prä­si­dent Rainer Dulger mahnte eine stärke­re Öffnung des Wirtschafts­le­bens an. Dies sei dringend nötig, «denn wir sind jetzt an einem Wende­punkt, wo vielen Betrie­ben die Puste ausgeht», sagte der Chef der Bundes­ver­ei­ni­gung der Deutschen Arbeit­ge­ber­ver­bän­de (BDA) der «Welt» (Samstag). «Diese perspek­tiv­lo­se Hinhal­te­po­li­tik macht viele Betrie­be und Beschäf­tig­te nur noch hilflos und wütend.» Der Chef des Müncher Ifo-Insti­tuts, Clemens Fuest, beklag­te in der «Augsbur­ger Allge­mei­nen»: «Ein Problem der Debat­te und der aktuel­len Politik besteht darin, dass nur in den Alter­na­ti­ven Öffnung versus Lockdown gedacht wird.» Es fehle seit langer Zeit eine proak­ti­ve­re Politik im Corona-Management.

Der Bundes­ge­schäfts­füh­rer des Bundes­ver­ban­des mittel­stän­di­sche Wirtschaft, Markus Jerger, schrieb in einem Brief an Kanzle­rin Merkel, ganze Branchen wie das Touris­mus- und Gastro­no­mie­ge­wer­be oder der Einzel­han­del drohten auf Dauer wegzu­bre­chen. «Das gegen­wär­ti­ge Impfcha­os muss schleu­nigst beendet werden, um weite­ren Schaden abzuwen­den», meint Jerger.

Bund und Länder hatten sich am Freitag über das weite­re Vorge­hen beim Impfen verstän­digt. So sollen die Hausärz­te unmit­tel­bar nach Ostern routi­ne­mä­ßig Schutz­imp­fun­gen gegen das Corona­vi­rus überneh­men. Die Impfzen­tren sollten künftig verläss­lich 2,25 Millio­nen Dosen pro Woche bekom­men — die darüber hinaus gehen­de Menge werde an die Arztpra­xen gehen. Verein­bart wurden zudem zusätz­li­che Impfdo­sen für vier Bundes­län­der mit Außen­gren­zen zu Frank­reich und Tsche­chi­en sowie für das grenz­na­he Thüringen.

Die Hausärz­te sind unzufrie­den mit dem Beschluss. «Wir stehen zum Impfen bereit — und wollen keine Reste­ram­pe werden», sagte der Bundes­vor­sit­zen­de des Deutschen Hausärz­te­ver­bands, Ulrich Weigeldt, den Zeitun­gen der Funke Medien­grup­pe. In einem ARD-«Extra» kriti­sier­te er, die Impfzen­tren würden privi­le­giert, die Menschen würden sicher aber lieber beim Hausarzt impfen lassen. «Wir haben 50 000 kleine Impfzen­tren», beton­te der Verbands­chef. Der Vorsit­zen­de der Stiftung Patien­ten­schutz, Eugen Brysch, forder­te in den Funke-Zeitun­gen, in den nächs­ten Monaten sollten bei Hausärz­ten ausschließ­lich die über 70-Jähri­gen geimpft werden.