MÜNCHEN (dpa) — Nur drei — oder doch sieben EM-Spiele? Schon gegen Frank­reich werden die Weichen gestellt, wie weit die letzte DFB-Missi­on von Joachim Löw reichen kann. Der Auftakt birgt Gefah­ren und Chancen zugleich.

Mit einem Verspre­chen an die Nation und einer großen Porti­on Hoffnung legen endlich auch Joachim Löw und seine EM-Kicker los.

14 Jahre, neun Monate und 30 Tage nach seinem ersten Spiel als Bundes­trai­ner führt der «ewige Jogi» die besten deutschen Fußbal­ler in das letzte große Event unter seiner Regie. «Ich gehe mit sehr viel Vorfreu­de und einem gesun­den Optimis­mus in das Turnier», sagte Löw der Deutschen Presse-Agentur.

«Alles raushau­en, was wir brauchen»

Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel und allen Fans von der Insel Rügen bis zu den Alpen hat der 61-Jähri­ge vor dem Hammer­start in eine ganz spezi­el­le Europa­meis­ter­schaft am Diens­tag (21.00 Uhr/ZDF und Magen­taTV) gegen den Topfa­vo­ri­ten Frank­reich verspro­chen, «dass wir mit Stolz das Trikot tragen und alles raushau­en, was wir brauchen». Es klingt nach dem Erfolgs-Löw, der von 2008 bis 2016 bei allen Turnie­ren das DFB-Team mindes­tens bis ins Halbfi­na­le führte und 2014 mit dem WM-Titel in Brasi­li­en den großen Wurf geschafft hatte.

In den zweiein­halb Wochen Vorbe­rei­tung auf die um ein Jahr verscho­be­ne EM machten alle Protago­nis­ten um die promi­nen­ten DFB-Rückkeh­rer Thomas Müller und Mats Hummels deutlich, dass sie Löw einen erfolg­rei­chen Abschied schen­ken wollen. «Es ist klar, jeder Einzel­ne muss das Maxima­le abrufen», beton­te Löw in der ARD: «Die Ansät­ze sind klasse. Man merkt, dass alle sprühen vor Ehrgeiz.» Die erste Elf kristal­li­sier­te sich rasch heraus (siehe unten) Doch eine Überra­schung ist bei Bauch­mensch Löw nie ausgeschlossen.

Reich­lich Zweifel und Fragezeichen

Als die beiden türkis­far­be­nen Teambus­se mit der Aufschrift «Germa­ny» am Montag um 10.34 Uhr zur 190 Kilome­ter langen Fahrt von Herzo­gen­au­rach zum Spiel­ort München abfuh­ren, waren aber reich­lich Zweifel und Frage­zei­chen mit an Bord. Ist das erst nach Löws Umden­ken kurzfris­tig formier­te Team robust, effek­tiv und abgestimmt genug? Können die Rio-Weltmeis­ter Hummels und Müller über zwei Jahre nach ihrer Verban­nung auch gegen einen Topgeg­ner das Team stabi­li­sie­ren? Vermö­gen Toni Kroos und Ilkay Gündo­gan die mächti­ge Offen­siv­power der Franzo­sen schon im Mittel­feld körper­lich resolut zu stoppen? Funktio­niert die neue Dreier-Abwehr­ket­te auch im großen Stresstest?

Löw geht bei seinem EM-Poker «all in». Es muss im ersten Versuch klappen. «Frank­reich ist absolut auf Top-Niveau», unter­strich der Chefcoach: «In jeder Bezie­hung.» Die Partie gegen die Topstars Kylian Mbappé, Antoine Griez­mann oder N’Golo Kanté wird den weite­ren Turnier­ver­lauf maßgeb­lich bestim­men. «Nur wenn du es als Team angehst, kannst du eine Mannschaft wie die Franzo­sen erfolg­reich bekämp­fen», mahnte Bayern-Star Joshua Kimmich. Löws Dilem­ma: Zieht er den Münch­ner wie erwar­tet auf die rechte Außen­bahn, fehlt der 26-Jähri­ge als bester Abräu­mer in der Zentra­le. «So lange wir die Spiele gewin­nen, ist mir das komplett egal», sagte Kimmich.

Kein konkre­tes EM-Ziel Löws

Deutsch­land geht mit drei Titeln (1972, 1980 und 1996) sowie einer Bilanz von 28 Siegen und nur zwölf Nieder­la­gen in den bishe­ri­gen 49 EM-Spielen als erfolg­reichs­te Nation bei Europa­meis­ter­schaf­ten in das aktuel­le Turnier. Nur Spani­en hat ebenfalls dreimal den EM-Thron bestie­gen. Löw will sich für sein achtes und letztes Turnier — er zählt den Confed-Cup-Sieg 2017 immer mit — nicht auf ein konkre­tes Ziel festle­gen. «Im Hinter­kopf» sei aber immer, «dass wir ins Finale vordrin­gen können», verriet er.

Mehr denn je braucht das noch ungefes­tig­te DFB-Ensem­ble bei der halben Heim-EM die Unter­stüt­zung der Fans. Zwar dürfen wegen der Corona-Pande­mie bei den drei Gruppen­spie­len am Diens­tag gegen Frank­reich, am Samstag gegen Portu­gal und wieder vier Tage darauf gegen Ungarn nur je 14.000 Fans in die Münch­ner Arena. Doch wie die bishe­ri­gen EM-Spiele zeigten: Auch das beflü­gelt die Gastgeber.

«Da passiert etwas, da sind Emotio­nen da. Das hilft allen Mannschaf­ten, die bei dem Turnier antre­ten — und uns zu Hause natür­lich auch», sagte Löw. Das unter­streicht auch die Statis­tik: Vier Spiele bestritt die DFB-Elf bei Heimtur­nie­ren in München, alle wurden gewon­nen. «Wir freuen uns extrem auf die 14 000. Das ist etwas, was allen fehlt: die Anfeue­rung vom Publi­kum, die Resonanz auf gute und schlech­te Aktio­nen», sagte Hummels im ZDF.

Nacken­schlä­ge hinter­las­sen Spuren

Natür­lich hätten die Nacken­schlä­ge der letzten drei Jahre mit dem blama­blen Vorrunden‑K.o. bei der WM 2018, das 0:6‑Desaster in Spani­en und der 1:2‑Blamage gegen Norde­ma­ze­do­ni­en Spuren hinter­las­sen, hat Hummels festge­stellt. Doch die könne man auch positiv nehmen, «indem jeder gewarnt ist». Der Dortmun­der spürt jetzt: «Wir haben eine viel besse­re Atmosphä­re in der Mannschaft als 2018, viel mehr das Gefühl, dass alle an einem Strang ziehen.» Und der 32-Jähri­ge sieht sogar die Chance auf den Gruppen­sieg. «Wenn wir so spielen, wie wir es können, werden wir die Gruppe mit Sicher­heit bestehen. Und nicht nur knapp.»

Der Glaube ist zurück, die Fans wieder von sich zu überzeu­gen. Das geht nur mit engagier­ten Fußball — und mit positi­ven Resul­ta­ten. «Es funktio­niert nur mit 100 Prozent und absolu­ter Leiden­schaft», sagte Hummels: «Sonst reicht es auf dem Niveau nicht.» Löw möchte nach 201 Länder­spie­len sein Amt an Nachfol­ger Hansi Flick überge­ben. Das hieße: Nach dem Finale am 11. Juli in London. Dort wurde Deutsch­land vor 25 Jahren letzmals Europa­meis­ter. Löw kennt aber auch die Gefahr, dass schon nach seiner 197. Partie Schluss ist. Er steht bei 194.

Die voraus­sicht­li­chen Aufstellungen:

Frank­reich: 1 Lloris — 2 Pavard, 4 Varane, 3 Kimpem­be, 21 Hernan­dez — 6 Pogba, 13 Kanté, 12 Tolis­so — 7 Griez­mann — 19 Benze­ma, 10 Mbappé

Deutsch­land: 1 Neuer — 4 Ginter, 5 Hummels, 2 Rüdiger — 6 Kimmich, 21 Gündo­gan, 8 Kroos, 20 Gosens — 7 Havertz, 10 Gnabry, 25 Müller

Schieds­rich­ter: Carlos del Cerro Grande (Spani­en)

Von Jens Mende, Klaus Bergmann und Arne Richter, dpa