Nachrich­ten aus dem Krieg sind oft schreck­lich, doch der russi­sche Angriff auf das Gebäu­de einer Geburts­kli­nik in der ukrai­ni­schen Hafen­stadt Mariu­pol hat inter­na­tio­nal beson­ders großes Entset­zen ausgelöst.

«Es gibt wenige Dinge, die verkom­me­ner sind, als die Verletz­li­chen und Hilflo­sen ins Visier zu nehmen», schrieb der briti­sche Premier­mi­nis­ter Boris Johnson am Mittwoch­abend bei Twitter. Die Spreche­rin von US-Präsi­dent Joe Biden, Jen Psaki, sprach von «barba­ri­scher Anwen­dung militä­ri­scher Gewalt gegen Zivilis­ten». Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj berich­te­te von 3 getöte­ten Zivilis­ten und 17 Verletz­ten. Moskau weist die ukrai­ni­sche Darstel­lung entschie­den als Falsch­mel­dung zurück.

Moskau: Ukrai­ni­sche Darstel­lung sei «Provo­ka­ti­on»

Entge­gen einer UN-Einschät­zung bezeich­ne­te das russi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um die ukrai­ni­sche Darstel­lung über den Angriff als «infor­mel­le Provo­ka­ti­on des Kiewer Regimes».

«Der Luftan­griff, der angeb­lich statt­ge­fun­den hat, ist eine vollstän­dig orches­trier­te Provo­ka­ti­on, um die antirus­si­sche Aufre­gung beim westli­chen Publi­kum aufrecht­zu­er­hal­ten», sagte Minis­te­ri­ums­spre­cher Igor Konaschenkow.

Wie auch Russlands Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow sagte Konaschen­kow, das am Mittwoch attackier­ten Gebäu­de sei zuletzt als Lager ultra­ra­di­ka­ler Kämpfer des ukrai­ni­schen Batail­lons Asow genutzt worden.

UN-Sprecher Stepha­ne Dujar­ric hinge­gen sagte in New York: «Das dorti­ge Menschen­rechts­team hat bestä­tigt und dokumen­tiert, was sie als wahllo­sen Luftan­griff auf das Kranken­haus bezeich­ne­ten, und dass das Kranken­haus zu dieser Zeit Frauen und Kinder versorgte.»

Bilder verbrei­ten sich in sozia­len Medien

Unter­des­sen kursie­ren in sozia­len Netzwer­ken vor allem zwei Bilder: Das eine zeigt eine hochschwan­ge­re Frau auf einer Treppe voller Schutt, sie trägt einen gepunk­te­ten Jogging­an­zug, im Brust­be­reich ist ein Teddy­bär aufge­näht, in ihrem Gesicht klebt Blut. Das zweite Bild zeigt eine offen­bar ebenfalls schwan­ge­re Frau, die auf einer Liege durch Trümmer getra­gen wird. Beide Aufnah­men stammen laut ukrai­ni­scher Darstel­lung von dem Gelän­de des betrof­fe­nen Entbindungsheims.

USA: Reale Gefahr von Chemiewaffen-Einsatz

Die USA sehen während­des­sen ein steigen­des Risiko für den Einsatz von Bio- oder Chemie­waf­fen durch Russland. Kursie­ren­de «Propa­gan­da» aus Moskau über die angeb­li­che Produk­ti­on von Massen­ver­nich­tungs­waf­fen durch die Ukrai­ne könnten ein Vorwand sein, um diese selbst einzu­set­zen, sagte der stell­ver­tre­ten­de ameri­ka­ni­sche UN-Botschaf­ter Jeffrey Prescott der Deutschen Presse-Agentur.

«Russland hat diese neuen falschen Behaup­tun­gen aufge­stellt. Wir haben gesehen, dass China diese Propa­gan­da unter­stützt hat. Und deshalb sollten wir Ausschau halten, ob Russland mögli­cher­wei­se chemi­sche oder biolo­gi­sche Waffen in der Ukrai­ne einsetzt oder eine Opera­ti­on unter falscher Flagge startet», sagte Prescott.

«Russlands Einsatz chemi­scher Waffen, einschließ­lich versuch­ter Atten­ta­te und Vergif­tun­gen von Putins politi­schen Feinden, einschließ­lich (Alexej) Nawal­ny, sind gut dokumen­tiert», beton­te Prescott. Außer­dem unter­stüt­ze Moskau das «Assad-Regime» in Syrien, das wieder­holt chemi­sche Waffen einge­setzt habe. Russland unter­hal­te außer­dem in Verlet­zung des Völker­rechts seit langem ein biolo­gi­sches Waffen­pro­gramm. Die nun kursie­ren­den Vorwür­fe gegen die Ukrai­ne seien «genau die Art von falschem Vorwand, vor dem wir seit einigen Monaten warnen, dass Russland ihn erfin­den würde.»

Auch Johnson warnt

Auch der briti­sche Premier­mi­nis­ter Boris Johnson warnt davor, Russland könne im Ukrai­ne-Krieg chemi­sche Waffen einset­zen. «Die Dinge, die man über chemi­sche Waffen hört, stammen exakt aus Russlands Drehbuch», sagte Johnson in einem Inter­view mit dem Sender Sky News.

«Sie begin­nen, in dem sie sagen, dass ihre Gegner oder die Ameri­ka­ner chemi­sche Waffen lagern», sagte Johnson über die russi­sche Führung. «Und wenn sie dann selbst chemi­sche Waffen einset­zen, was ich fürch­te, dass sie das tun könnten, haben sie schon eine Art “Maski­rov­ka”, eine Fake-Geschich­te, bereit.»

Bitte um Hilfe für Mariupol

Die ukrai­ni­sche Vizere­gie­rungs­chefin Iryna Werescht­schuk wandte sich in einem drama­ti­schen Appell an die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft. «Helft Mariu­pol! Dort ist eine reale humani­tä­re Katastro­phe», sagte die 42-Jähri­ge am Donners­tag per Videobotschaft.

Die strate­gisch wichti­ge Hafen­stadt am Asowschen Meer wird seit mehre­ren Tagen von russi­schen Truppen belagert. Zuletzt schei­ter­ten mehre­re Versu­che, Zivilis­ten zu evaku­ie­ren. Die humani­tä­re Lage ist Beobach­tern zufol­ge katastrophal.

Es sei zum wieder­hol­ten Male kein Hilfs­trans­port zustan­de gekom­men. «Weder Wasser, noch Medika­men­te oder Lebens­mit­tel gelang­ten zu den Menschen, die sich unter totalem Beschuss mehre­re Tage hinter­ein­an­der befin­den», beton­te die Minis­te­rin. Im Gebiet Donezk sei der Flucht­kor­ri­dor von Wolno­wacha nach Pokrowsk ebenso nicht zustan­de gekommen.

Paral­lel dazu seien zu anderen Städten erfolg­reich humani­tä­re Korri­do­re einge­rich­tet worden. «Aus den Städten Sumy, Trost­ja­nez, Krasno­pill­ja haben wir in Richtung Polta­wa inner­halb der vergan­ge­nen zwei Tage mehr als 60.000 Menschen heraus­ge­bracht», sagte Werescht­schuk. Das habe Frauen, Kinder, Behin­der­te und Alte betrof­fen. Ihr zufol­ge ist es zudem im Gebiet Charkiw gelun­gen, etwa 3000 Menschen aus der Stadt Isjum zu retten.

Paral­le­len zu Aleppo und Grosny

Es wird befürch­tet, dass die Lage in Mariu­pol durch die russi­sche Belage­rung letzt­end­lich so drama­tisch werden könnte wie einst in der tsche­tsche­ni­schen Haupt­stadt Grosny und im syrischen Aleppo. «Ich denke, was man in Mariu­pol vorfin­den wird, wenn der Krieg vorbei ist, wird schreck­lich sein», sagte der franzö­si­sche Außen­mi­nis­ter Jean-Yves Le Drian kürzlich. Auch der Chef der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Human Rights Watch, Kenneth Roth, zog bereits die Paral­le­le zu Aleppo und Grosny.

Ungeach­tet der wieder­hol­ten Beteue­run­gen aus Moskau, nicht gezielt Zivilis­ten anzugrei­fen, melde­te Mariu­pol am Donners­tag einen erneu­ten Beschuss von Wohnge­bie­ten. Nach Angaben der lokalen Behör­den wurden mehre­re Bomben abgewor­fen. Auch das ließ sich zunächst nicht überprü­fen. «Die Zerstö­rung ist enorm», teilte der Stadt­rat von Mariu­pol mit.

UN-Menschen­rechts­bü­ro: 549 Zivilis­ten getötet

Das UN-Hochkom­mis­sa­ri­at für Menschen­rech­te dokumen­tier­te seit dem Einmarsch Russlands am 24. Febru­ar und bis Mittwoch, 00.00 Uhr, den Tod von 549 Zivilis­ten in der Ukrai­ne. Am Vortag waren es 516. Darun­ter waren 41 Minder­jäh­ri­ge, wie das Büro in Genf berich­te­te. Dem Büro lagen zudem verifi­zier­te Infor­ma­tio­nen über 957 Verletz­te vor. Am Vortag waren es 908.

Die UN-Hochkom­mis­sa­rin für Menschen­rech­te, Michel­le Bache­let, betont stets, dass die tatsäch­li­chen Zahlen mit Sicher­heit deutlich höher lägen. Mitar­bei­te­rin­nen und Mitar­bei­ter bräuch­ten oft Tage, um Opfer­zah­len zu überprü­fen. Das Hochkom­mis­sa­ri­at gibt nur Todes- und Verletz­ten­zah­len bekannt, die es selbst unabhän­gig überprüft hat.

Von Hannah Wagner, Andre­as Stein und Benno Schwing­ham­mer, dpa