KIEW/MOSKAU (dpa) — Noch sei es den Russen nicht gelun­gen, Kiew zu erobern, sagt der ukrai­ni­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter und macht seinen Solda­ten Mut. Während­des­sen werden weiter schwe­re Angrif­fe gemeldet.

In der ostukrai­ni­schen Millio­nen­stadt Charkiw sei der russi­sche Angriff zurück­ge­schla­gen worden, heißt es von der ukrai­ni­schen Armee. Zuvor hatten sich nach Angaben der örtli­chen Gebiets­ver­wal­tung russi­sche und ukrai­ni­sche Truppen Straßen­kämp­fe geliefert.

Die Angrei­fer seien zuvor mit leich­ter Technik durch­ge­bro­chen und auch ins Zentrum der Stadt mit etwa 1,5 Millio­nen Einwoh­nern gelangt, teilte der Chef der Gebiets­ver­wal­tung, Oleh Synje­hub­ow, am Sonntag bei Facebook mit. Die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te würden die Gegner besie­gen. Zivilis­ten sollten in Häusern und Schutz­räu­men bleiben. Videos in sozia­len Netzwer­ken zeigten mehre­re Militärfahrzeuge.

Die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te ziehen für die Vertei­di­gung der Haupt­stadt Kiew weiter Kräfte zusam­men. Es gehe vor allem um die Abwehr des russi­schen Angriffs im Norden und im Nordwes­ten der Haupt­stadt, schrieb Vizever­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin Hanna Maljar am Sonntag bei Facebook. Im ganzen Land laufe die Mobili­sie­rung. Die Luftwaf­fe habe russi­sche Kampf­jets und Trans­port­ma­schi­nen über Kiew abgefan­gen, im Süden habe die Marine eine russi­sche Landung vereitelt.

Am Mittag wurde mitge­teilt, dass die ukrai­ni­sche Armee die Stadt Irpin nordwest­lich von Kiew zurück­er­obert habe. Die Agentur Unian veröf­fent­lich­te Videos, die angeb­lich getöte­te Russen zeigen sollen. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhän­gig überprü­fen. Zudem sollen ukrai­ni­schen Angaben zufol­ge mehre­re gepan­zer­te Fahrzeu­ge der Russen nahe dem seit Tagen umkämpf­ten Flugplatz Hosto­mel zerstört worden sein.

Kiew lässt Gefan­ge­ne für Kampf gegen Russland frei

Im Krieg gegen Russland sollen nun auch Gefan­ge­ne für die Ukrai­ne kämpfen. Mehre­re ehema­li­ge Solda­ten seien bereits aus der Haft entlas­sen worden und kämpf­ten an der Front, sagte Andrij Synjuk von der General­staats­an­walt dem Sender Hromadske am Sonntag. Darun­ter seien auch verur­teil­te Mörder. Voraus­set­zun­gen für eine Entlas­sung seien Kampf­erfah­rung, Verdiens­te und aufrich­ti­ges Bedau­ern. Auch zwei ehema­li­ge Komman­dan­ten natio­na­lis­ti­scher Freiwil­li­gen­ver­bän­de, die wegen Ermor­dung und Folter von Gefan­ge­nen verur­teilt worden waren, hätten entspre­chen­de Gesuche gestellt. Darüber sei aber noch nicht entschie­den worden, sagte Synjuk.

General­stab: Russland hat Nachschub-Probleme

Nach Angaben des ukrai­ni­schen General­stabs geht der russi­sche Angriff weiter, aller­dings sei das Tempo deutlich gebremst worden. Der Feind habe Nachschub­pro­ble­me bei Treib­stoff und Muniti­on, teilte die Armee­füh­rung auf Facebook mit. Die russi­schen Solda­ten, bei denen es sich vor allem um junge Rekru­ten handle, seien erschöpft wegen der voran­ge­gan­ge­nen Manöver. Moral und psycho­lo­gi­scher Zustand seien schlecht. Es gebe erste Berich­te über Deser­ta­tio­nen von Solda­ten, die sich weiger­ten, gegen die Ukrai­ne zu kämpfen. Einige Gefan­ge­ne sagten ukrai­ni­schen Medien zufol­ge, sie seien für ein Manöver abkom­man­diert gewesen und hätten sich dann in einem Krieg wieder­ge­fun­den. Überprüf­bar war das nicht.

Die russi­schen Truppen hätten schwe­re Verlus­te erlit­ten, teilte der General­stab weiter mit. Bisher seien mehr als 3000 Solda­ten getötet und mehr als 200 gefan­gen genom­men worden. 16 Flugzeu­ge und 18 Hubschrau­ber seien zerstört worden, ebenso mehr als 100 Panzer und Hunder­te weite­re Militärfahrzeuge.

Weiter­hin vieler­orts schwe­re Angriffe

Die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te sind nach Medien­be­rich­ten weiter­hin vieler­orts schwe­ren Angrif­fen «aus allen Richtun­gen» ausge­setzt. Dem russi­schen Gegner werde jedoch «entschlos­se­ner Wider­stand» entge­gen­ge­setzt, heißt es in einer Mittei­lung der ukrai­ni­schen Armee.

Der ukrai­ni­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Olexij Resni­kow machte seinen Solda­ten nach den tagelan­gen schwe­ren Kämpfen Mut. In einem Beitrag auf Facebook sprach er von «drei Tagen, die unser Land und die Welt für immer verän­dert haben». Dabei sei es den Russen nicht gelun­gen, wie geplant Kiew zu erobern. «Statt­des­sen sehe ich eine helden­haf­te Armee, eine siegrei­che Wache, furcht­lo­se Grenz­wäch­ter, engagier­te Retter, zuver­läs­si­ge Polizis­ten, unermüd­li­che medizi­ni­sche Engel.»

Resni­kow sprach den Vertei­di­gern Mut zu. «Stünd­lich erken­nen immer mehr Menschen, dass es nirgend­wo in Europa eine solche Armee gibt.» Die Ukrai­ne erwar­te nunmehr Hilfe, die vor drei Tagen nicht möglich schien. «Die Dunkel­heit wird zurück­wei­chen. Die Morgen­däm­me­rung ist nahe.»

Russland hatte am Samstag eine verstärk­te Offen­si­ve gegen die Ukrai­ne angekün­digt. Der «Vormarsch der wichtigs­ten russi­schen Streit­kräf­te» werde wieder aufge­nom­men, sagte Kreml­spre­cher Dmitri Peskow laut der Agentur Inter­fax. Begrün­det wurde das damit, dass die Ukrai­ne angeb­lich ein Angebot von Friedens­ver­hand­lun­gen ausge­schla­gen habe — was die ukrai­ni­sche Führung zurück­wies. Gesicher­te Infor­ma­tio­nen zum eigent­li­chen Kampf­ge­sche­hen in der Ukrai­ne waren jedoch auch in der Nacht zum Sonntag spärlich.

Kreml­chef Wladi­mir Putin hat den russi­schen Streit­kräf­ten seine Anerken­nung ausge­spro­chen. Sie hätten nicht das erste Mal unter schwie­rigs­ten Bedin­gun­gen maximal effek­tiv ihre Aufga­ben erfüllt, sagte Putin in einer am Sonntag veröf­fent­lich­ten Video­bot­schaft zum Tag der Kräfte für Spezi­al­ope­ra­tio­nen. Putin nennt seinen am Donners­tag begon­ne­nen Krieg gegen das Nachbar­land Ukrai­ne eine Spezi­al­ope­ra­ti­on. Die Einhei­ten würden in diesen Tagen helden­haft ihre militä­ri­schen Pflich­ten erfül­len «bei der Hilfe­leis­tung für die Volks­re­pu­bli­ken des Donbass».

Russland: 471 ukrai­ni­sche Solda­ten gefan­gen genommen

Bei ihrem Angriff auf die Ukrai­ne haben russi­sche Truppen nach eigenen Angaben 471 ukrai­ni­sche Solda­ten gefan­gen genom­men. Die Ukrai­ner würden weiter­hin in Massen den Kampf verwei­gern, behaup­te­te der Sprecher des Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums in Moskau, Igor Konaschen­kow, am Sonntag. Nahe der ostukrai­ni­schen Großstadt Charkiw habe sich ein ganzes Regiment ergeben, das mit Boden-Luft-Raketen­ab­wehr­sys­te­men vom Typ Buk-M1 ausge­rüs­tet gewesen sei. «Allen ukrai­ni­schen Solda­ten kommt Respekt und Unter­stüt­zung zuteil», sagte Konaschen­kow. Sobald bürokra­ti­sche Forma­li­en erledigt seien, kehrten sie zu ihren Famili­en zurück.

Russland hatte die Ukrai­ne am Donners­tag­mor­gen angegrif­fen. Seitdem seien 975 militä­ri­sche Objek­te zerstört worden, sagte Konaschen­kow. Zudem seien 8 Kampf­flug­zeu­ge und 7 Hubschrau­ber sowie 11 Kampf­droh­nen abgeschos­sen worden. Weite­re 28 Flugzeu­ge wurden demnach am Boden zerstört, ebenso 223 Panzer und andere Kampf­fahr­zeu­ge. Zur Zahl der getöte­ten Solda­ten in den eigenen Reihen machte Konaschen­kow keine Angaben. Nach Darstel­lung der ukrai­ni­schen Armee wurde unter anderem ein schwe­rer russi­scher Angriff bei Charkiw abgeschla­gen. Bei Cherson im Süden sei dagegen russi­schen Einhei­ten nach erbit­ter­ten Kämpfen ein Vorstoß gelun­gen. In der Region Luhansk gab es Gefechte.

Gaslei­tung nahe Charkiw soll brennen

Auch in Kiew wurde nach Medien­be­rich­ten heftig gekämpft. Dabei soll ein Lager mit radio­ak­ti­ven Abfäl­len des Unter­neh­mens Radon von russi­schen Grana­ten getrof­fen worden sein, wie der Sender Kanal 24 und andere Medien melde­ten. Nach ersten Messun­gen bestehe «keine Bedro­hung für die Bevöl­ke­rung außer­halb der Schutz­zo­ne», hieß es.

In der Nähe der Großstadt Charkiw in der Ostukrai­ne ging nach Darstel­lung der ukrai­ni­schen Agentur Unian eine Gaslei­tung in Flammen auf. Sie soll von russi­schen Truppen gesprengt worden sein. Unklar war, ob es sich bei der Leitung um eine regio­na­le Erdgas­lei­tung oder um einen Teil der aus Russland nach Europa führen­den Leitun­gen handelt.

Gefech­te um Flugha­fen nahe Kiew

Russi­sche und ukrai­ni­sche Einhei­ten liefer­ten sich am frühen Sonntag­mor­gen erbit­ter­te Gefech­te um den Flugha­fen Vasil­ko­vo in einem Vorort der Haupt­stadt Kiew. Nach Medien­be­rich­ten versuch­ten die russi­schen Einhei­ten weiter­hin, einen der größe­ren Flughä­fen rund um Kiew unter ihre Kontrol­le zu bringen.

All diese Angaben lassen sich nicht von unabhän­gi­ger Seite überprü­fen. Selen­skyj, der am Samstag immer wieder Video­bot­schaf­ten verbrei­tet hatte, blieb bis Sonntag­früh in sozia­len Medien für einige Stunden still, ebenso Kiews Bürger­meis­ter Vitali Klitsch­ko. Am Samstag­abend hatte Klitsch­ko im Nachrich­ten­ka­nal Telegram geschrie­ben: «Die Nacht wird schwie­rig.» Die ukrai­ni­schen Behör­den hatten schon am Samstag­mor­gen von Kampf­hand­lun­gen in Kiew gesprochen.

Nato verlegt Einsat­zu­trup­pe NRF

Zur Verstär­kung der Ostflan­ke und zur Abschre­ckung Russlands verlegt die Nato unter­des­sen Kräfte der schnel­len Einsatz­trup­pe NRF in das ukrai­ni­sche Nachbar­land Rumäni­en. Die belgi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rin Ludivi­ne Dedon­der bestä­tig­te entspre­chen­de Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur vom Vortag.

Konkret kündig­te Dedon­der die Entsen­dung von 300 Solda­ten an, die derzeit Teil der sogenann­ten Nato-«Speerspitze» VJTF sind. Diese ist wieder­um Teil der NRF.

Neben den belgi­schen Kräften werden nach Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur insbe­son­de­re franzö­si­sche Truppen nach Rumäni­en verlegt. Frank­reich führt in diesem Jahr die rund 5000 Solda­ten starke VJTF.

Deutsch­land stellt für die schnells­te Eingreif­trup­pe der Nato derzeit rund 750 Kräfte. Sie wurden nach Angaben eines Sprechers des Bundes­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums vom Samstag­nach­mit­tag bislang aller­dings nicht vom Nato-Oberbe­fehls­ha­ber für den Einsatz angefor­dert. Insge­samt stehen in diesem Jahr rund 13.700 deutsche Bundes­wehr­sol­da­ten für die NRF zur Verfügung.

Weite­re Militär­hil­fe an Ukrai­ne geliefert

Die Ukrai­ne hat nach dem Angriff Russlands weite­re Militär­hil­fe aus dem balti­schen EU- und Nato-Land Litau­en erhal­ten. «Litaui­sche Truppen beende­ten ihre logis­ti­sche Opera­ti­on vor Mitter­nacht und liefer­ten Waffen, Muniti­on, Helme und gepan­zer­te Westen», schrieb der litaui­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Arvydas Anusaus­kas am Sonntag bei Twitter. Nach seinen Angaben sende­ten insge­samt 13 Nato-Staaten der Ukrai­ne bereits militä­ri­sche Hilfe in Form von Waffen, Muniti­on und Flug- und Panzer­ab­wehr­ra­ke­ten. Litau­en hatte zuvor bereits in den USA herge­stell­te Stinger-Flugab­wehr­ra­ke­ten in die Ukrai­ne geliefert.