BERLIN (dpa) — Bei der Aufklä­rung von Krimi­nal­fäl­len denken die meisten Menschen vor allem an Ermitt­ler, die am Tatort nach Spuren suchen. Doch inzwi­schen lassen sich Fälle auch per Mausklick lösen.

Tagelang suchten die Ermitt­ler in der Nähe des Wohnor­tes und befrag­ten das Umfeld der Vermiss­ten — doch die entschei­den­de Wende brach­te ein Aufruf bei Facebook.

Der Fall der 16-jähri­gen Isabel­la aus dem nieder­säch­si­schen Celle, die von einigen schon für tot gehal­ten und schließ­lich wohlauf in Frank­reich gefun­den wurde, machte bundes­weit Schlag­zei­len. Und er zeigte: Krimi­nal­fäl­le werden im digita­len Zeital­ter auch vor dem Compu­ter-Bildschirm gelöst.

«Öffent­lich­keits­fahn­dun­gen können ein wertvol­les Hilfs­mit­tel bei Ermitt­lun­gen jegli­cher Art sein», sagt Daniel Kretz­schmar, Vorstands­mit­glied beim Bund Deutscher Krimi­nal­be­am­ter. Als Instru­ment für Ermitt­lun­gen habe es sie schon immer gegeben. Die sozia­len Medien und das Inter­net seien nur weite­re Wege, die auch einem verän­der­ten Medien­kon­sum geschul­det seien. «Wo früher die Litfaß­säu­le betrach­tet oder eine Zeitung gelesen wurde, da schaut man eben heute mal schnell ins Netz», sagt Kretzschmar.

Doch worum ging es überhaupt in Celle? Ende März verschwin­det die 16-jähri­ge Schüle­rin Isabel­la aus ihrem Eltern­haus. Wochen­lang gibt es kein Lebens­zei­chen, die Polizei vermu­tet ein Gewalt­ver­bre­chen. Ein vielfach geteil­ter Facebook-Video­auf­ruf landet schließ­lich auf dem Bildschirm einer Beamtin des Bundes­kri­mi­nal­am­tes (BKA). Sie erkennt die Ähnlich­keit mit einem in Frank­reich aufge­fun­de­nen Mädchen und infor­miert die Kolle­gen in Celle. Kurz darauf wird die Hoffnung zur Gewiss­heit: Das Mädchen in Frank­reich ist Isabella.

Ermitt­lungs­maß­nah­men in sozia­len Medien spielen bei der Aufklä­rung von Straf­ta­ten eine immer größe­re Rolle, wie der Berli­ner Straf­ver­tei­di­ger Toralf Nöding aus seinem Berufs­all­tag berich­tet. Dies gelte nicht nur bei der Aufklä­rung von Straf­ta­ten mit Inter­net­be­zug, sondern auch bei «norma­len» Straf­ta­ten. Beispiels­wei­se könne die Facebook-Freun­des­lis­te eines Beschul­dig­ten helfen, dessen Kontakt­per­so­nen zu ermit­teln. Ein Blick auf Perso­nen, die Beiträ­ge des Beschul­dig­ten «teilen» oder «liken», könnte ebenfalls aufschluss­rei­che Erkennt­nis­se liefern. Nöding: «Auch gepos­te­te Bilder des Beschul­dig­ten, auf denen er mit bestimm­ten, mögli­cher­wei­se tatre­le­van­ten Kleidungs­stü­cken zu sehen ist oder über die sich sein Aufent­halts­ort zu einer bestimm­ten (Tat-)Zeit nachvoll­zie­hen lässt, können für die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den inter­es­sant sein.»

Frei zugäng­li­che Daten im Inter­net spielen auch für die Polizei in Nordrhein-Westfa­len eine wichti­ge Rolle bei der tägli­chen Ermitt­lungs­ar­beit. «Die Analy­se digita­ler Daten ist ein zuneh­mend wichti­ger Aspekt der polizei­li­chen Arbeit. Die Polizei NRW hat die Notwen­dig­keit erkannt, sich dieser Heraus­for­de­rung zu stellen und entwi­ckelt auch in diesem Bereich neue techni­sche Möglich­kei­ten», sagt der Sprecher des Innen­mi­nis­te­ri­ums Markus Niesc­zery. Welche konkre­ten Instru­men­te die Ermitt­ler dabei einset­zen, teilt Niesc­zery aus polizei­tak­ti­schen Gründen nicht mit.

Die Polizei in Hessen setzt bei der Verbre­cher­jagd im Inter­net seit kurzem sogar auf einen spezi­el­len Studi­en­gang: Seit Septem­ber 2020 kann der Polizei-Nachwuchs dort Cyber­kri­mi­na­lis­tik studie­ren. Damit soll beson­ders geschul­ter Nachwuchs rekru­tiert und die Digital­kom­pe­tenz erhöht werden.

Aber darf die Polizei einfach auf Daten von Verdäch­ti­gen in sozia­len Medien zugrei­fen? «Materi­al, das von Betrof­fe­nen selbst­stän­dig öffent­lich geteilt wird, kann grund­sätz­lich ausge­wer­tet werden», so Kretz­schmar. Schwie­ri­ger wird es bei verdeck­ten Ermitt­lun­gen, etwa in geschütz­ten Chatgrup­pen und Öffent­lich­keits­fahn­dun­gen: Hier sei in der Regel ein richter­li­cher Beschluss notwendig.

Nicht immer sind Verdäch­ti­ge in sozia­len Netzwer­ken mit ihren Klarna­men unter­wegs. Zu deren Identi­fi­zie­rung ist die Polizei häufig darauf angewie­sen, dass Telekom­mu­ni­ka­ti­ons­un­ter­neh­men die Inter­net-Verbin­dungs­da­ten ihrer Nutzer über länge­re Zeit aufbe­wah­ren. Diese sogenann­te Vorrats­da­ten­spei­che­rung ist jedoch hochum­strit­ten. Erst im Oktober entschied der Europäi­sche Gerichts­hof, dass Sicher­heits­be­hör­den in der EU derlei Daten nur in beson­de­ren Ausnah­me­fäl­len speichern dürfen — etwa bei der akuten Bedro­hung der natio­na­len Sicher­heit oder zur Bekämp­fung schwe­rer Krimi­na­li­tät. Die Deutsche Telekom hält die IP-Adres­sen ihrer Nutzer — sozusa­gen die Anschrift im Inter­net — nach eigenen Angaben sieben Tage lang vor.

Der frei zugäng­li­che Daten­schatz in den sozia­len Netzwer­ken hilft Ermitt­lern zwar bei der Aufklä­rung von Verbre­chen. Gleich­zei­tig gibt er aber Einbli­cke in Gewohn­hei­ten und Haltun­gen, die den Staat im Zweifel nichts angehen dürften. Dies birgt zumin­dest die theore­ti­sche Möglich­keit, dass Menschen allein aufgrund ihrer Geistes­hal­tung in den Fokus von polizei­li­chen Ermitt­lun­gen geraten könnten. «Diese Gefahr ist absolut gegeben», sagt Nöding. Als beson­ders proble­ma­tisch sieht der Jurist etwa, wenn Nutzer durch einen «Like» oder «Retweet» eines Beitra­ges den Eindruck einer bestimm­ten Anschau­ung erweck­ten und die Ermitt­ler daraus einen Anfangs­ver­dacht konstruierten.

Kretz­schmar betont aber, dass die Verant­wor­tung der Polizei nicht mit den Ermitt­lun­gen im Inter­net ende, den Rahmen bilde immer das Gesetz. «Deshalb sehe ich keine Gefahr, dass die Polizei jenseits der gesetz­li­chen Befug­nis­se Ausfor­schun­gen betreibt.» Gleich­wohl sollte sich seiner Ansicht nach jeder genau überle­gen, welche Infor­ma­tio­nen er über sich öffent­lich mache — «daraus können nämlich alle Menschen diesel­ben Erkennt­nis­se gewin­nen, wie die Polizei.»

Von Taylan Gökalp, dpa