Seit mehr als einer Woche kommt es zu Krawal­len in Nordir­land. Dutzen­de Polizis­ten wurden verletzt. Grund dürfte unter anderem der Sonder­sta­tus der briti­schen Provinz durch den Brexit sein.

BELFAST (dpa) — Ein Bus steht lichter­loh in Flammen, Jugend­li­che schleu­dern Steine, Feuer­werks­kör­per und Molotow­cock­tails auf Polizisten.

Mit einem Wasser­wer­fer versu­chen Beamte, eine Gruppe Randa­lie­rer in Schach zu halten. Die Szenen der vergan­ge­nen Nächte in Nordir­land erinnern an den drei Jahrzehn­te dauern­den bluti­gen Konflikt in der briti­schen Provinz, der erst 1998 offizi­ell mit dem Karfrei­tags­ab­kom­men endete — aber nie ganz aufhör­te zu schwelen.

Seit gut einer Woche liefern sich Randa­lie­ren­de Straßen­schlach­ten mit der Polizei, mehr als 50 Einsatz­kräf­te wurden bereits verletzt. Exper­ten befürch­ten, dass sich die Gewalt weiter zuspitzt. «Es ist eine sehr besorg­nis­er­re­gen­de Zeit. Die Situa­ti­on ist sehr insta­bil im Moment und Spannun­gen erhöhen sich», sagte die Konflikt­for­sche­rin Katy Hayward von der Queen’s Univer­si­ty Belfast der Deutschen Presse-Agentur.

Obwohl es vor allem junge Menschen sind, die sich kaum an die Zeit erinnern dürften, sind die Konflikt­li­ni­en noch immer die alten bei den Ausschrei­tun­gen in Belfast und London­der­ry, das von Katho­li­ken nur Derry genannt wird. Auf der einen Seite stehen die überwie­gend protes­tan­ti­schen Unionis­ten, die um jeden Preis an der Zugehö­rig­keit Nordir­lands zum Verei­nig­ten König­reich festhal­ten wollen. Und auf der anderen Seite stehen die vorwie­gend katho­li­schen Befür­wor­ter eines gesamt­iri­schen Natio­nal­staats durch eine Verei­ni­gung Nordir­lands mit der Republik Irland im Süden, auch Natio­na­lis­ten genannt.

Zunächst spiel­te sich die Gewalt nur in unionis­tisch gepräg­ten Straßen­zü­gen ab, Auslö­ser war der Ärger über die Entschei­dung der Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den, hochran­gi­ge katho­li­sche Politi­ker nach der Teilnah­me an der großen Beerdi­gung eines ehema­li­gen Mitglieds der Terror­be­we­gung IRA nicht wegen Verstö­ßen gegen die Corona-Regeln zu belan­gen. Auch die Regelun­gen des Brexit-Abkom­mens, wonach Nordir­land de facto im Handels­raum der EU verbleibt, wird immer wieder genannt. Die Unionis­ten fühlen sich dadurch vom Rest des Verei­nig­ten König­reichs abgekoppelt.

Inzwi­schen ist der Funke auch auf die katho­lisch gepräg­ten Viertel überge­sprun­gen. Vor allem die Polizei war das Ziel der Angrif­fe, aber teilwei­se wurden auch Geschos­se direkt über die als Friedens­mau­ern bezeich­ne­ten Zäune gewor­fen, die protes­tan­ti­sche und katho­li­sche Bezir­ke vonein­an­der trennen.

Politi­ker beider konfes­sio­nel­ler Lager verur­teil­ten die Gewalt scharf. Seit einigen Jahren arbei­ten sie mit wechseln­dem Erfolg in einer Einheits­re­gie­rung zusam­men, in der die jeweils stärks­te Partei aus beiden Lagern vertre­ten ist. Das ist derzeit auf der protes­tan­ti­scher Seite die Democra­tic Unionist Party (DUP) und auf katho­li­scher Seite Sinn Fein, der ehemals politi­sche Arm der Unter­grund- und Terror­or­ga­ni­sa­ti­on IRA.

Doch die Spannun­gen sind allge­gen­wär­tig, sowohl im politi­schen Tages­ge­schäft als auch im Alltag. Schulen, Kinder­gär­ten, Pubs — man bleibt in Nordir­land lieber unter sich. Auf beiden Seiten gibt es noch immer militan­te Gruppie­run­gen, die das Gewalt­mo­no­pol des Staates nicht anerken­nen und nicht davor zurück­schre­cken, Menschen die ihrer Ansicht nach gegen die Regeln versto­ßen, beispiels­wei­se mit Schüs­sen in die Kniekeh­le (Kneecap­ping) zu verstüm­meln oder gar zu ermorden.

«Bei dem zerbrech­li­chen Friedens­pro­zess in Nordir­land geht es immer darum, beide Seiten vorsich­tig auszu­ba­lan­cie­ren», sagt Katy Hayward, die seit Jahren dazu forscht. Was also hat diese Balan­ce aus dem Gleich­ge­wicht gebracht? «Ohne den Brexit wären wir nicht in dieser Situa­ti­on», ist sich Hayward sicher. Von Beginn an spiel­te Nordir­land bei den Brexit-Verhand­lun­gen eine zentra­le Rolle.

Durch den Austritt Großbri­tan­ni­ens ist die unsicht­ba­re Grenze zwischen der briti­schen Provinz Nordir­land und der Republik Irland zur EU-Außen­gren­ze gewor­den. Dennoch galt unbedingt zu vermei­den, dass dort eine harte Grenze mit Barrie­ren und Kontroll­pos­ten entsteht. Diese — so viel war allen Betei­lig­ten klar — hätten erst Recht als Ziel von Angrif­fen katho­lisch-natio­na­lis­ti­scher Seite gedient und die alten Konflik­te befeuert.

Doch die Lösung dieses Problems war alles andere als einfach. Der sogenann­te Backstop-Plan, der zunächst gefasst wurde, musste wegen des Wider­stands in der konser­va­ti­ven Regie­rungs­par­tei in Großbri­tan­ni­en wieder verwor­fen werden. Er hätte das ganze Land bis auf weite­res eng an die EU gebun­den und damit Waren­kon­trol­len überflüs­sig gemacht. Es war Boris Johnson, der die jetzi­ge Regelung, das sogenann­te Nordir­land-Proto­koll durch­setz­te, wonach die Provinz im Handels-Orbit der EU bleibt.

Das hat jedoch zur Folge, dass an den Häfen kontrol­liert werden muss, wenn Waren aus dem Rest des König­reichs nach Nordir­land gebracht werden — und sorgt für Schwie­rig­kei­ten und Papier­kram. Die Unionis­ten fühlen sich betrogen.

Und während EU und Großbri­tan­ni­en noch — flankiert von Ärger über Allein­gän­ge und Provo­ka­tio­nen — daran arbei­ten, dass Nordir­land-Proto­koll in die Reali­tät umzuset­zen, reichen schon die ersten Kontrol­len und Handels­bar­rie­ren aus, um vor Ort die Wogen in die Höhe zu treiben. Derzeit gelten etwa für Super­märk­te noch Übergangs­re­geln, mittel­fris­tig stehen jedoch weite­re Kontrol­len und Forma­li­tä­ten an. Katy Hayward sieht sowohl London als auch Brüssel in der Pflicht, die Sorgen der Menschen in Nordir­land ernstzunehmen.