BERLIN (dpa) — Der Verfas­sungs­ge­richts­hof findet klare Worte zu den Pannen bei der Wahl des Berli­ner Abgeord­ne­ten­hau­ses 2021. Noch ist das Urteil nicht gespro­chen, doch die politi­schen Folgen sind bereits spürbar.

Nach der vorläu­fi­gen Einschät­zung des Berli­ner Verfas­sungs­ge­richts müssen sich Politi­ke­rin­nen und Politi­ker in der Haupt­stadt auf eine komplet­te Wieder­ho­lung der Wahl zum Abgeord­ne­ten­haus einstel­len. Zwar liegt ein Urteil noch nicht vor und Präsi­den­tin Ludge­ra Selting beton­te in der mündli­chen Verhand­lung am Mittwoch mehrfach, das Gericht berate die vorge­brach­ten Argumen­te. Doch in der Politik sind die Vorbe­rei­tun­gen bereits angelaufen.

So sagte CDU-General­se­kre­tär Mario Czaja den Berli­ner Christ­de­mo­kra­ten bereits Unter­stüt­zung zu. «Unser Bundes­vor­sit­zen­der Fried­rich Merz und ich werden den Kandi­da­tin­nen und Kandi­da­ten der Berli­ner CDU dabei helfen, diese Wahl zu gewin­nen», sagte Czaja am Mittwoch dem «Tages­spie­gel». «Die Chancen stehen gut, dass die Christ­de­mo­kra­ten ganz Berlin erobern – zumal die Partei­en der rot-grün-roten Koali­ti­on für das Wahlcha­os 2021 verant­wort­lich sind», meinte Czaja.

CDU-General­se­kre­tär: «Regie­ren­de Bürger­meis­te­rin auf Abruf»

Berlins AfD-Frakti­ons­vor­sit­zen­de Kristin Brinker rechnet mit einer komplet­ten Wieder­ho­lung der Abgeord­ne­ten­haus­wahl im nächs­ten Frühjahr. «Ich würde mich wundern, wenn das Gericht da noch einen anderen Ausweg finden würde», sagte Brinker am Rand der mündli­chen Verhand­lung. Auch CDU-General­se­kre­tär Stefan Evers meinte, Berlin müsse sich nun auf komplet­te Neuwah­len einstel­len. «Franzis­ka Giffey ist mit dem heuti­gen Tag eine Regie­ren­de Bürger­meis­te­rin auf Abruf», sagte er mit Blick auf die SPD-Regierungschefin.

Der Berli­ner Verfas­sungs­ge­richts­hof hatte am Mittwoch rund sieben Stunden über Beschwer­den der Landes­wahl­lei­tung, der Innen­ver­wal­tung sowie der Partei­en AfD und Die Partei gegen die Wahl am 26. Septem­ber 2021 verhan­delt. Bei der Vorbe­rei­tung und Durch­füh­rung der Wahl habe es eine Vielzahl von schwe­ren Wahlfeh­lern gegeben, führte Gerichts­prä­si­den­tin Selting aus. Diese seien nach einer vorläu­fi­gen Einschät­zung mandats­re­le­vant gewesen — sie hatten nach Einschät­zung des Gerichts also Auswir­kun­gen auf die Zusam­men­set­zung des Parla­ments und die Vertei­lung der Manda­te. Verant­wort­lich seien die Landes­wahl­lei­tung und der Senat.

Der Staats- und Verwal­tungs­recht­ler Chris­ti­an Pesta­loz­za zeigte sich verwun­dert über die vorläu­fi­ge Einschät­zung des Gerichts, wonach die Wahl komplett wieder­holt werden muss. «Der Umfang einer Wahlwie­der­ho­lung muss im Verhält­nis zu den Wahlfeh­lern stehen», sagte der Profes­sor von der Freien Univer­si­tät Berlin der Deutschen Presse-Agentur. «Man kann nicht flächen­de­ckend neu wählen, wenn die Wahl zu großen Teilen fehler­frei war.»

Der Verfas­sungs­ge­richts­hof sage offen­bar: «Wir wollen reinen Tisch machen», so Pesta­loz­za. Das sei aus seiner Sicht aber proble­ma­tisch. «Man kann nicht aufgrund von Mutma­ßun­gen in größe­rem Umfang neu wählen lassen, als es wirklich nötig ist. Das geht nicht.» Wahlfeh­ler müssten zweifels­frei festge­stellt werden, dann müsse die Mandats­re­le­vanz geprüft werden. Er hoffe, dass das Gericht nach seiner am Mittwoch vorge­tra­ge­nen vorläu­fi­gen Einschät­zung noch einmal in sich gehe.

Entschei­dung im Novem­ber oder Dezember

Insge­samt liegen dem Gericht 35 Einsprü­che gegen die Wahl vor. Offen blieb zunächst, wann das Gericht sein Urteil sprechen will. Nach der Verhand­lung haben die Richte­rin­nen und Richter laut Gesetz drei Monate Zeit dafür, also bis Ende des Jahres. Im politi­schen Raum wird ihre Entschei­dung im Novem­ber oder Dezem­ber erwartet.

Schon jetzt wurden Forde­run­gen nach einem Rücktritt des SPD-Politi­kers Andre­as Geisel als Senator laut, der zum Zeitpunkt der Wahl im Septem­ber 2021 Innen­se­na­tor war und inzwi­schen an der Spitze der Senats­ver­wal­tung für Stadt­ent­wick­lung und Bauen steht.

«Er sollte weite­ren Schaden vom Ansehen des Senats durch seinen sofor­ti­gen Rücktritt abwen­den», meinte Berlins FDP-Landes­chef Chris­toph Meyer. Auch CDU-General­se­kre­tär Evers hält einen Rücktritt für unaus­weich­lich. «Wer das Vertrau­en in Wahlen erschüt­tert, gefähr­det unsere Demokra­tie. Ich finde es schlimm, dass bis heute weder die SPD, noch der für das Wahlcha­os verant­wort­li­che Senator Geisel Konse­quen­zen gezogen haben.»

Geisel lehnt einen Rücktritt ab. «Es ist nicht so, dass ich nicht Verant­wor­tung spüre. Aber die Frage ist, welche Entschei­dung trifft man, um die Sache besser zu machen, und ich habe mich entschlos­sen zu arbei­ten», sagte er am Mittwoch­abend bei einem Leser­fo­rum der «Berli­ner Morgen­post». «Ich selbst war Kandi­dat und hätte nicht eingrei­fen dürfen», beton­te Geisel und fragte: «Was würde es besser machen, wenn ich zurück­tre­te?» Er habe eine Aufga­be in Berlin, die darin bestehe, die Stadt weiter­zu­ent­wi­ckeln und Wohnun­gen zu bauen. «Und wenn ich mich prüfe und mich frage: Hast du die Wahl organi­siert, dann sage ich: Nein, du hast die Wahl nicht organi­siert. Das bedeu­tet aber nicht, dass wir nicht dafür zu sorgen haben, dass das nie wieder passiert.»