LWIW (dpa) — Bilder aus dem zerbomb­ten Mariu­pol gehen um die Welt. Viele Städte in der Ukrai­ne sind vom Krieg gezeich­net. Doch nicht überall wird gekämpft. Wie erleben die Menschen im Westen des Landes den Krieg?

Der Krieg ist fern an diesem Frühlings­tag im Südwes­ten der Ukrai­ne, in den Vorber­gen der Karpa­ten. Rund um den Kurort Schid­nyz­ja, der für sein Mineral­was­ser bekannt ist, treten sport­lich geklei­de­te Radfah­rer in die Pedale. Auch Jogger sind unterwegs.

Vor Souve­nir­stän­den stehen Famili­en, die zu anderen Zeiten norma­le Touris­ten wären, jetzt aber Flücht­lin­ge sind. Ungeach­tet der Flücht­lings­strö­me und der schreck­li­chen Bilder aus den umkämpf­ten Städten im Norden und Osten ist ein Großteil der Ukrai­ne vom Krieg bisher unberührt. Einzig ein Plakat erinnert hier an den Krieg: «Russi­sches Kriegs­schiff, verpiss dich».

Am Grenz­über­gang Smilnyz­ja nahe der Großstadt Lwiw (früher: Lemberg) wollen nur wenige Reisen­de von Polen hinein in die Ukrai­ne. Die Warte­zeit beträgt weniger als eine Stunde. Die Beamten begnü­gen sich mit einer kurzen Kontrol­le des Passes, einem schnel­len Blick in den Koffer­raum. Nicht einmal eine Frage nach Corona-Impfun­gen oder ‑Tests, obwohl Schil­der am Gebäu­de darauf hinwei­sen. Auf der Gegen­sei­te warten Mitar­bei­ter von Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen auf Flüchtlinge.

Sprit an den Tankstel­len ist knapp

Nach der Einrei­se fällt sogleich auf, dass an den Tankstel­len der Sprit knapp gewor­den ist. Viele haben nur noch Diesel — wenn überhaupt. An einer anderen Tankstel­le an einer großen Europa­stra­ße in Richtung Karpa­ten stehen die Leute in einer langen Schlan­ge für Flüssig­gas an. Super­ben­zin mit 95 Oktan wird mit 20 Liter pro Auto ratio­niert. Nur Normal­ben­zin, in Deutsch­land inzwi­schen unüblich, kann unbegrenzt in den Tank fließen.

Der ukrai­ni­sche Minis­ter­prä­si­dent Denys Schmyhal hat seinen Lands­leu­ten aber verspro­chen, dass sich die Situa­ti­on bessern werde. Bei Kriegs­be­ginn vor jetzt schon fast einem Monat fiel der Kraft­stoff weg aus dem Nachbar­land Belarus, Russlands Verbün­de­tem. Nun sind neue Liefer­ket­ten aus der EU im Aufbau. «Nach den neuen Regeln sind bereits die ersten 1000 Tonnen Treib­stoff einge­trof­fen», sagt der Regie­rungs­chef vor wenigen Tagen.

Das Innen­mi­nis­te­ri­um will die Versor­gungs­la­ge verbes­sern. Nach dem ersten Kriegs­schock wurden überall im Land Kontroll­punk­te von Bürger­wehr und Polizei errich­tet. Dadurch geriet jedoch der Liefer­ver­kehr ins Stocken. «Gerade gelang es uns, die Zahl der Kontroll­punk­te auf 1500 zu verrin­gern, indem wir sehr viele der unnöti­gen Kontroll­punk­te besei­tig­ten, die nur die Bewegung erschwer­ten und Zeit nahmen», sagte Innen­mi­nis­ter Denys Monastyrs­kyj. Und in der Tat sind hier viele Check­points verwaist.

Im Klein­städt­chen Borys­law herrscht bei sonni­gem Wetter emsiges Treiben. Autos und Klein­bus­se drängen sich durch die Haupt­stra­ße. Händler bieten Obst und Gemüse an. An Lebens­mit­teln herrscht kein Mangel. Die Wechsel­stu­ben sind geöff­net. Bedingt durch die Einschrän­kun­gen der Natio­nal­bank bieten sie für einen Euro 36 Hrywn­ja, die Landes­wäh­rung — 14 Prozent mehr als vor dem Krieg.

Sorge um die Getrei­de­ern­te im Land

Bei der Fahrt durchs Land fallen die Vorar­bei­ten für die Aussaat auf. Äcker sind frisch gepflügt. Teils wird bereits gesät, mit der Hand. Groß ist die Sorge, dass die Getrei­de­ern­te in der Ukrai­ne wegen des Kriegs nur mager oder ganz ausfal­len könnte. Dann droht nicht nur der Ukrai­ne, sondern auch anderen Ländern eine Hungers­not. Viel von dem Getrei­de aus der frühe­ren «Kornkam­mer der Sowjet­uni­on» wird exportiert.

Auffäl­lig auch, wie voll in den Vorber­gen der Karpa­ten gerade die Spiel­plät­ze sind. An Präsenz­un­ter­richt ist für die vor dem Krieg geflo­he­nen Schüler nicht zu denken. Unmit­tel­bar nach Kriegs­be­ginn wurden landes­weit mindes­tens zwei Wochen Ferien angeord­net. Vergan­ge­ne Woche begann je nach örtli­cher Sicher­heits­la­ge wieder der norma­le Unter­richt. Mehre­re TV-Sender übertra­gen zudem Fernun­ter­richt, wie während der Corona-Quarantäne.

Einheits­pro­gramm im Fernsehen

Im Fernse­hen läuft ansons­ten seit den ersten Kriegs­ta­gen rund um die Uhr ein Einheits­pro­gramm, das auch von einigen Radio­sen­dern übernom­men wird. Nur einige Sparten­sen­der bringen Filme oder Kinder­sen­dun­gen. Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj hat zudem angeord­net, dass auch die letzten Nachrich­ten­sen­der aufs Einheits­pro­gramm umschwen­ken. Das Ziel: der natio­na­lis­ti­schen Opposi­ti­on um Ex-Präsi­dent Petro Poroschen­ko und dessen TV-Nachrich­ten­sen­dern die letzte Möglich­keit zur Kritik am Regie­rungs­kurs nehmen.

Die Folgen des Kriegs sind aber auch schon in einem Karpa­ten­ort zu sehen, wo viele Flücht­lin­ge Schutz suchen vor den russi­schen Truppen. In einem Super­markt gibt es inzwi­schen erste Lücken in den Regalen. Vor allem Beutel­tee und Konser­ven sind nur einge­schränkt erhält­lich. Proble­me gibt es auch bei Buchwei­zen und Getrei­de­sor­ten. An anderer Stelle lockt der Duft von frischem Brot. Die Regale sind mit mehre­ren Sorten gefüllt.

Gemüse wie Kohl, Rote Bete, Möhren, Zwiebeln und Knoblauch, aber auch Eier, Käse und Fleisch sind erhält­lich. An der Kasse funktio­niert die Bankkar­te. Einzig der Verkauf von Alkohol ist fast überall verbo­ten. Die Restau­rants sind vielleicht auch deshalb noch gut gefüllt, weil dort noch ausge­schenkt wird. Männer­grup­pen lassen sich Bier und Kräuter­schnaps bringen. Letzte Runde ist jedoch schon um 21.00 Uhr. Mit Beginn der Sperr­stun­de von 22.00 bis 7.00 Uhr darf niemand mehr auf der Straße sein.

Von Andre­as Stein, dpa