BERLIN (dpa) — Die Dominanz der riskan­ten Varian­te in Deutsch­land scheint unauf­halt­bar. Die Regie­rung setzt auf freiwil­li­ge regel­mä­ßi­ge Tests und mehr Kontrol­len. Reise-Regeln verschär­fen will sie nicht.

Deutsch­land nähert sich bei der Verbrei­tung der anste­cken­de­ren Delta-Varian­te nach Erwar­tung der Bundes­re­gie­rung immer mehr den Verhält­nis­sen von Großbri­tan­ni­en oder Portugal.

Beide Länder sollen in wenigen Tagen von ihrem Status als Virus­va­ri­an­ten- zum Hochin­zi­denz­ge­biet herun­ter­ge­stuft werden, wenn die Delta-Antei­le in Deutsch­land vergleich­bar sind. Das kündig­te Gesund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn (CDU) am Donners­tag in Berlin an. Nach Einschät­zung des Robert Koch-Insti­tuts geht mindes­tens jede zweite Corona-Anste­ckung in Deutsch­land bereits auf Delta zurück. Jetzt kommt es aus Spahns Sicht darauf an, die absolu­te Zahl solcher Infek­tio­nen klein zu halten. Die Bundes­po­li­zei kontrol­liert laut Innen­mi­nis­ter Horst Seeho­fer (CSU) verstärkt Rückkeh­rer und Einrei­sen­de an Flughäfen.

Jede zweite Neuin­fek­ti­on mit Delta

Delta wird sich nach Schät­zung des Robert Koch-Insti­tuts (RKI) in Deutsch­land durch­set­zen. Spahn mahnte, die bald für alle bestehen­de Impf-Chance zu ergrei­fen und von den «en masse» verfüg­ba­ren Test Gebrauch zu machen. «Es liegt an uns, ob Delta eine Chance hat.» Spahn sagte: «Doppelt geimpft schützt gegen Delta.» Dies sei mittler­wei­le erwie­sen. Menschen ohne Impfung, gerade auch zurück­keh­ren­de Urlau­ber, sollten sich regel­mä­ßig testen lassen.

Wegen Quali­täts­un­ter­schie­den bei Schnell­tests macht laut Exper­ten vor allem ihr regel­mä­ßi­ger Gebrauch Sinn — etwa zum Scree­ning in Betrieb oder Schule. Im Einzel­fall könnten Tests für ein positi­ves Ergeb­nis eine so hohe Viren­zahl benöti­gen, wie man sie mit Sympto­men erreicht.

Jüngs­te konkre­te Messun­gen ergaben laut RKI einen Delta-Anteil von rund 37 Prozent — aller­dings ist die Stich­pro­be noch von Mitte Juni. Die Corona-Verbrei­tung ist insge­samt noch rückläu­fig. Binnen eines Tages gab es bundes­weit 892 Neuin­fek­tio­nen. Bei 5,1 lag laut RKI die Sieben-Tage-Inzidenz (Vortag: 5,2 — Vorwo­che: 6,6). Fachleu­te befürch­ten eine Trend­um­kehr mit zuneh­men­der Delta-Verbreitung.

Vorsicht beim Reisen

Urlaubs­rei­sen nach Portu­gal und Großbri­tan­ni­en werden wieder leich­ter möglich — wenn die Länder von Virus­va­ri­an­ten- zu Hochin­zi­denz­ge­bie­ten herun­ter­ge­stuft werden. Dies werde der Fall sein, wenn die Antei­le der anste­cken­de­ren Delta-Varian­te vergleich­bar seien, voraus­sicht­lich bei 70 bis 80 Prozent, sagte Spahn. Die Neube­wer­tung werde für die kommen­den Tage erwar­tet. Ausschlag­ge­bend seien der relati­ve Anteil der Varian­te in Deutsch­land und die Schutz­wir­kung der zuneh­men­den Zahl der doppel­ten Impfun­gen. Die derzei­ti­ge Einstu­fung als Virus­va­ri­an­ten­ge­biet schreibt 14 Tage Quaran­tä­ne vor.

Statio­nä­re Grenz­kon­trol­len will Seeho­fer auch im Sommer nicht einfüh­ren — und so lange Staus an den Grenz­über­gän­gen vermei­den. Die Polizei­kon­trol­len an Flughä­fen würden aber verstärkt. Und an Autobah­nen soll es Stich­pro­ben-Kontrol­len geben. «Wer einreist, muss damit rechnen, kontrol­liert zu werden», sagte Seeho­fer. Die Gesund­heits­äm­ter kontrol­lie­ren laut Spahn die Einhal­tung von Quaran­tä­ne. Das Sinken der Inziden­zen gebe ihnen dafür den Freiraum.

Spahn vertei­dig­te die Reise­po­li­tik der Regie­rung. Es könne nicht für jeden — egal ob aus Risiko­ge­biet oder nicht — eine Testpflicht einge­führt werden. Die Regie­rung wolle Balan­ce von Freiheits­rech­ten und Gesund­heits­schutz halten. Von den Ländern seien bei der jüngs­ten Bund-Länder-Schal­te zum Thema nur von einem Land Vorschlä­ge für Verschär­fun­gen gekom­men. Aktuell ist kein Nachbar­land Deutsch­lands als Risiko­ge­biet einge­stuft. Bei den Kontrol­len von Autofah­rern geht es auch um Reisen­de, die aus der Türkei oder Großbri­tan­ni­en kommen.

Sorgen macht sich die Regie­rung wegen der Fußball-EM. Seeho­fer kriti­sier­te den UEFA-Kurs als «absolut verant­wor­tungs­los». Es sei bei dicht gedräng­ten Menschen in Stadi­en «vorge­zeich­net, dass dies das Infek­ti­ons­ge­sche­hen befördert».

Start des Impfnachweises

Der EU-Impfnach­weis starte­te offizi­ell am Donners­tag. 200 Millio­nen Stück sind laut EU-Kommis­si­on bereits ausge­stellt — für den Nachweis frischer Tests, Impfun­gen und Genesun­gen europa­weit. Reisen­de können mit einem Nachweis über eine Impfung in mehre­ren Ländern Quaran­tä­ne vermei­den. Die Nachwei­se werden vieler­orts auch für Besuche in Restau­rants, Clubs oder Veran­stal­tun­gen benötigt. Sie sollen in der ganzen EU sowie Norwe­gen, der Schweiz und Island zum Einsatz kommen. Wie der breite Einsatz in der Praxis klappt, muss sich in den kommen­den Tagen und Wochen zeigen.

Änderun­gen gab es auch im deutschen Recht. So war die Bundes­not­brem­se im Infek­ti­ons­schutz­ge­setz bis zum 30. Juni befris­tet. Die Wirtschaft begrüß­te unter­des­sen das Auslau­fen der coronabe­ding­ten Homeof­fice­pflicht am Mittwoch.

Impfung für alle in diesem Monat

Im neuen Monat sollen alle impfwil­li­gen Erwach­se­nen das Angebot einer Erstimp­fung erhal­ten. Momen­tan sind 37,3 vollstän­dig und 55,1 Prozent mit mindes­tens einer Impfdo­sis geimpft. Spahn teilte mit, allein mit den Liefe­run­gen durch Biontech/Pfizer und Moder­na könne allen erwach­se­nen Impfwil­li­gen ein Angebot im Juli gemacht werden. Für Kinder und Jugend­li­che soll bis Ende August mindes­tens die erste Impfung möglich gemacht werden. Laut einer Mittei­lung der Ständi­gen Impfkom­mis­si­on sollen Menschen, die als erste Dosis das Vakzin von Astra­ze­ne­ca bekom­men haben, unabhän­gig vom Alter zum besse­ren Schutz vor Delta als zweite Impfung voraus­sicht­lich Biontech oder Moder­na bekommen.

Fürs kommen­de Jahr sollen 204 Millio­nen Impfdo­sen verschie­de­ner Herstel­ler bestellt werden, teilte Spahn mit. Reichen solle das für zwei Impfdo­sen pro Person und einen Sicher­heits­puf­fer — laut einem vom «Handels­blatt» zitier­ten Bericht für den Schutz gegen Mutatio­nen und für Auffri­schungs­imp­fun­gen. Die Mengen seien EU-vertrag­lich gesichert oder als Wünsche angemel­det, so Spahn. Ohne Betei­li­gung Deutsch­lands an den Verträ­gen hätte die ganze EU laut Spahn weniger Sicher­heit. Insge­samt rechnet das Minis­te­ri­um laut «Handels­blatt» mit Kosten in Höhe von 3,9 Milli­ar­den Euro für die Liefe­run­gen 2022.

Inner­halb Deutsch­lands will Spahn auf «on demand» umstel­len. Die für Impfzen­tren, Arztpra­xen und Betriebs­ärz­te gebrauch­ten Dosen würden gelie­fert. Die Länder wollten aber Impfstoff nicht lagern, gelie­fert werde nur das Bestell­te. Der Rest werde durch den Bund gelagert oder dem inter­na­tio­na­len Impfpro­gramm Covax gegeben.

Von Basil Wegener, Anne-Béatri­ce Clasmann und Gisela Gross, dpa