ERFURT (dpa) — In die Diskus­si­on um eine Pflicht zur Arbeits­zeit­er­fas­sung platzt das Bundes­ar­beits­ge­richt mit einem Grund­satz­ur­teil. Es kann nach Einschät­zung von Fachleu­ten weitrei­chen­de Auswir­kun­gen auf die Arbeits­welt Zehntau­sen­der haben.

Einen Pauken­schlag nennt der Bonner Arbeits­rechts­pro­fes­sor Gregor Thüsing das Grund­satz­ur­teil des Bundes­ar­beits­ge­richts in Erfurt zur generel­len Pflicht, Arbeits­zeit zu erfassen.

Die Entschei­dung der höchs­ten deutschen Arbeits­rich­ter von Diens­tag in Erfurt könnte eine Art digita­le Stech­uhr in Unter­neh­men, Büros und Verwal­tun­gen zurück­brin­gen. In den vergan­ge­nen Jahren gab es eher den Trend zu Vertrau­ens­ar­beits­zeit­mo­del­len, mobilem Arbei­ten und Homeof­fice mit wenig Kontrol­le und Papier­kram. Verhan­delt wurde ein Fall aus Nordrhein-Westfalen.

Grund­satz­ur­teil gefällt

Während die Ampel-Regie­rung, Wirtschafts­ver­tre­ter und Arbeits­recht­ler noch über eine Änderung des deutschen Arbeits­zeit­ge­set­zes disku­tie­ren, ist jetzt höchst­rich­ter­lich entschie­den: Es besteht in Deutsch­land eine Pflicht zur Arbeits­zeit­er­fas­sung (1ABR 22/21). Die Präsi­den­tin des Bundes­ar­beits­ge­richts, Inken Gallner, begrün­de­te die Pflicht von Arbeit­ge­bern zur syste­ma­ti­schen Erfas­sung der Arbeits­zei­ten ihrer Beschäf­tig­ten mit der Ausle­gung des deutschen Arbeits­schutz­ge­set­zes nach dem sogenann­ten Stech­uhr-Urteil des Europäi­schen Gerichts­hofs (EuGH).

Die Argumen­ta­ti­on der Richter

«Wenn man das deutsche Arbeits­schutz­ge­setz mit der Maßga­be des Europäi­schen Gerichts­hofs auslegt, dann besteht bereits eine Pflicht zur Arbeits­zeit­er­fas­sung», sagte Gallner in der Verhand­lung. Nach dem deutschen Arbeits­zeit­ge­setz müssen bisher nur Überstun­den und Sonntags­ar­beit dokumen­tiert werden, nicht die gesam­te Arbeits­zeit. Das Bundes­ar­beits­ge­richt zog aber nicht das Arbeitszeit‑, sondern das Arbeits­schutz­ge­setz heran. Nach Paragraf 3 sind Arbeit­ge­ber danach schon heute verpflich­tet, «ein System einzu­füh­ren, mit dem die von den Arbeit­neh­mern geleis­te­te Arbeits­zeit erfasst werden kann». Gallner sagte in der Verhand­lung: «Zeiter­fas­sung ist auch Schutz vor Fremd­aus­beu­tung und Selbstausbeutung.»

Was die Entschei­dung brisant macht

Mit seinem Grund­satz­ur­teil prescht das Bundes­ar­beits­ge­richt in der Debat­te um die Änderung des deutschen Arbeits­zeit­ge­set­zes vor. Die Bundes­re­gie­rung arbei­tet daran, Vorga­ben des Europäi­schen Gerichts­hofs aus dessen Stech­uhr-Urteil von 2019 in deutsches Recht umzuset­zen. Danach sind die EU-Länder zur Einfüh­rung einer objek­ti­ven, verläss­li­chen und zugäng­li­chen Arbeits­zeit­er­fas­sung verpflich­tet. Die soll nach der Inten­si­on des EuGH helfen, ausufern­de Arbeits­zei­ten einzu­däm­men und Ruhezei­ten einzu­hal­ten. Die Kehrsei­te von Vertrau­ens­ar­beit seien teils unbezahl­te Überstun­den, argumen­tie­ren Gewerkschafter.

Was das Urteil bewir­ken kann

Fachleu­te rechnen damit, dass das BAG-Grund­satz­ur­teil Auswir­kun­gen auf die bisher in Wirtschaft und Verwal­tung häufig prakti­zier­ten Vertrau­ens­ar­beits­zeit­mo­del­le bis hin zu mobiler Arbeit und Homeof­fice haben wird, weil damit mehr Kontrol­le besteht. «Die Frage ist, ob Regelun­gen zu Vertrau­ens­ar­beits­zeit so wie bisher noch möglich sind», so Arbeits­recht­ler Thüsing. Andere Fachleu­te sind da optimis­ti­scher. Gerichts­prä­si­den­tin Gallner sagte dazu, nach dem EuGH-Urteil habe Deutsch­land Gestal­tungs­spiel­raum «über das Wie, nicht das Ob der Arbeits­zeit­er­fas­sung». Unter­neh­men müssten nun Lösun­gen zur «umfas­sen­den Arbeits­zeit­er­fas­sung einrich­ten», glaubt der Fachan­walt Micha­el Kalbfus von der Kanzlei Noerr in München.

Geset­zes­än­de­rung geplant

Im Koali­ti­ons­ver­trag der Ampel-Koali­ti­on heißt es: «Im Dialog mit den Sozial­part­nern prüfen wir, welchen Anpas­sungs­be­darf wir angesichts der Recht­spre­chung des Europäi­schen Gerichts­hofs zum Arbeits­zeit­recht sehen. Dabei müssen flexi­ble Arbeits­zeit­mo­del­le (z.B. Vertrau­ens­ar­beits­zeit) weiter­hin möglich sein.»

Der Fall, der verhan­delt wurde

Eigent­lich ging es bei dem Fall, der verhan­delt wurde, nur um die Frage, ob Betriebs­rä­te auf die Einfüh­rung eines elektro­ni­schen Arbeits­zeit­er­fas­sungs­sys­tems pochen können — also ein Initia­tiv­recht haben. Der Betriebs­rat schei­ter­te mit seiner Forde­rung, bei der es ihm um die besse­re Überstun­den­do­ku­men­ti­on ging. Eine betrieb­li­che Mitbe­stim­mung oder ein Initia­tiv­recht sei ausge­schlos­sen, wenn es bereits eine gesetz­li­che Verpflich­tung zur Arbeits­zeit­er­fas­sung gibt, begrün­de­te das Bundes­ar­beits­ge­richt seine Ableh­nung. Dass der Rechts­streit zu einem Grund­satz­ur­teil führte, überrasch­te sicht­lich die Anwäl­te des Betriebs­rats und des Arbeit­ge­bers, der Sozial- und Gesund­heits­ein­rich­tun­gen betreibt.

Erste Reaktio­nen aus der Politik

Nordrhein-Westfa­lens Arbeits­mi­nis­ter Karl-Josef Laumann (CDU) fordert, das Urteil rasch umzuset­zen. «Jetzt muss das jahre­lan­ge Hin- und Her von Bundes­wirt­schafts- und Bundes­ar­beits­mi­nis­te­ri­um ein Ende haben und bei der Reform des Arbeits­zeit­ge­set­zes klipp und klar zum Ausdruck gebracht werden, dass die Stunden aufge­zeich­net werden müssen», unter­strich Laumann am Mittwoch in Düssel­dorf. Er freue sich über die höchst­rich­ter­li­che Entschei­dung. «Denn ich habe nie verstan­den, dass bei Menschen, die nach Stunden­lohn bezahlt werden, die Stunden nicht aufge­schrie­ben werden.»

Inzwi­schen gebe es viele Möglich­kei­ten, die Arbeits­zeit sehr unbüro­kra­tisch digital zu erfas­sen. Insofern sei das auch nicht mit großem Aufwand verbun­den. Gleich­zei­tig stärke eine genaue Erfas­sung die Rechte der Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer, beton­te Laumann.