LONDON (dpa) — England wollte 55 Jahre ohne Titel beenden, Itali­en ein begeis­tern­des Turnier krönen. Die Erwar­tun­gen an das Finale dieser außer­ge­wöhn­li­chen Fußball-EM waren gigan­tisch. Die Entschei­dung im Wembley-Stadi­on fiel im Elfmeterschießen.

Itali­en hat sein mitrei­ßen­des Turnier mit dem zweiten EM-Triumph nach 1968 gekrönt und die Hoffnun­gen von Gastge­ber England auf den ersten Titel seit 55 Jahren zerstört.

Vor der spekta­ku­lä­ren Wembley-Atmosphä­re von 67.173 Zuschau­ern setzte sich die Mannschaft von Trainer Rober­to Manci­ni am Sonntag in einem inten­si­ven und hochspan­nen­den Endspiel mit 3:2 im Elfme­ter­schie­ßen durch. Nach 120 Minuten hatte es 1:1 gestanden.

Die Azzur­ri steck­ten den Schock des frühen Rückstan­des durch Luke Shaw (2. Minute) weg und glichen zunächst durch Leonar­do Bonuc­ci aus (67.). Im Elfme­ter­schie­ßen verga­ben dann die Englän­der Marcus Rashford, der Noch-Dortmun­der Jadon Sancho und Bukayo Saka.

Itali­en blieb damit auch im 34. Spiel in Serie ungeschla­gen und belohn­te sich drei Jahre nach der verpass­ten WM 2018 für ein starkes Turnier. Die Three Lions dagegen müssen weiter auf ihren ersten Titel seit dem WM-Erfolg 1966 warten.

England findet keine Erlösung

Auch die frühe Führung und eine starke Leistung reich­ten dem Team von Trainer Gareth South­ga­te nicht zur Erlösung. Für den Coach war es nach der erfolg­lo­sen Heim-EM 1996 zugleich der nächs­te persön­li­che Wembley-Rückschlag: Vor 25 Jahren hatte South­ga­te im alten Londo­ner Stadi­on im EM-Halbfi­na­le als Einzi­ger seinen Elfme­ter gegen Deutsch­land verschos­sen und den Titel-Traum der Englän­der beendet.

Wie emotio­nal aufge­la­den die Stimmung war, demons­trier­ten schon die Szenen Stunden vor dem ersten Pfiff des nieder­län­di­schen Schieds­rich­ters Björn Kuipers. Die meisten Fans feier­ten fried­lich, aber nicht wenige benah­men sich auch daneben und versuch­ten, ohne Tickets in das Stadi­on zu gelan­gen. In der Innen­stadt herrsch­te teilwei­se Ausnah­me­zu­stand, es kam auch zu Schlä­ge­rei­en und Gewalt. Die Lage im Stadi­on schien aber weitge­hend unter Kontrol­le, pünkt­lich um 21.00 Uhr begann der finale Akt der EM. Dass kurz vor Ende der regulä­ren Spiel­zeit ein Flitzer auf den Platz gelang­te, geht nur als Fußno­te in die Geschich­te dieses denkwür­di­gen Fußball-Abends ein.

Frühe Führung für England

South­ga­te begann wie erwar­tet ohne BVB-Profi Jadon Sancho und etwas überra­schend mit einer Dreier­ket­te — wie bis dato nur beim 2:0‑Erfolg im Achtel­fi­na­le gegen Deutsch­land. Und seine Elf begann furios. Keine zwei Minuten waren gespielt, ein kleiner nervö­ser Wackler von Harry Magui­re verges­sen, als Shaw den bislang besten Konter der Three Lions im ganzen Turnier veredel­te. Über Kapitän Harry Kane lande­te der Ball beim einen Außen­ver­tei­di­ger Kieran Trippier, dessen Flanke der andere Außen­ver­tei­di­ger Shaw per sehens­wer­tem Dropkick verwertete.

South­ga­te ballte kurz die Finger zur Faust und klatsch­te anerken­nend, vergrub dann aber wieder sofort beide Hände mit stoischem Gesichts­aus­druck in den Hosen­ta­schen. Sein Kolle­ge Manci­ni, der der gleichen Start­elf wie beim 4:2‑Sieg im Elfme­ter­schie­ßen im Halbfi­na­le gegen Spani­en vertrau­te, versuch­te mit Loren­zo Insigne zu disku­tie­ren. Doch der Angrei­fer signa­li­sier­te, dass er gar nichts hören könne. Überhaupt schie­nen die Italie­ner anfangs beein­druckt und einge­schüch­tert von der imposan­ten Kulis­se im Fußball-Tempel.

Itali­en tat sich zunächst schwer

«Macht sie blau», hatte die «Gazzet­ta dello Sport» gefor­dert. Der verletz­te Leonar­do Spinaz­zo­la war auf Krücken nach London gereist und hatte einen von «La Stampa» veröf­fent­lich­ten emotio­na­len Brief an seine Teamkol­le­gen geschrie­ben. Doch diese taten sich schwer und fanden kaum ein Mittel gegen die ganz in weiß geklei­de­ten Engländer.

Vor allem South­ga­tes System­um­stel­lung erwies sich zunächst als genia­ler Kniff. Die Vorstö­ße von Shaw und Trippier über außen bekamen die Azzur­ri nicht unter­bun­den, weil deren Offen­siv­kräf­te Insigne und Feder­i­co Chiesa meistens vorne blieben. Allzu viel gelang ihnen dort nicht — bis zur 35. Minute. Chiesa probier­te es aus der Distanz, sein Schuss auf dem regen­nas­sen Rasen ging aber knapp am Pfosten vorbei.

Am frühe­ren Dortmun­der Ciro Immobi­le hinge­gen lief das Gesche­hen bis zu seiner Auswechs­lung in der 55. Minute weitge­hend vorbei. Marco Verrat­tis Schuss in der Nachspiel­zeit der ersten Hälfte stell­te Englands Torwart Jordan Pickford vor keiner­lei Probleme.

Viel Pathos und Leidenschaft

«Sie sind bereit. Wir freuen uns auf die Heraus­for­de­rung», hatte South­ga­te vor der Partie der BBC gesagt. Und bereit waren seine Spieler auch sofort nach Wieder­an­pfiff. «God save the Queen» sangen die völlig eupho­ri­sier­ten Fans. Raheem Sterling suchte einen Elfme­ter, der ihm aber — im Gegen­satz zum heftig disku­tier­ten Straf­stoß im Halbfi­na­le gegen Dänemark — korrek­ter­wei­se verwehrt blieb (48.). Die Stimmung auf den Rängen konnte diese Szene nicht trüben. Voller Pathos und Leiden­schaft trieben die Fans ihre Elf an, die sich auch über Unter­stüt­zung aus Königs­haus und Politik freute.

Von Prinz William (39) über Queen Eliza­beth (95) bis zu Premier­mi­nis­ter Boris Johnson (57) — die ganze Insel wünsch­te den Three Lions Glück. Der «Daily Star Sunday» stell­te auf seiner Titel­sei­te Kane mit aufge­ris­se­nem Mund als römischen Kaiser Cäsar dar. «CAESAR MOMENT», schrieb das Blatt dazu. Der «Sunday Mirror» bezog sich ebenfalls auf Top-Stürmer Kane und druck­te die Schlag­zei­le: «WE KANE BE HEROES» («Wir können Helden sein»).

Mit jeder Minute dieses stimmungs­vol­len Abends rückte die Helden­tat näher, ehe sich die Italie­ner ihr entge­gen­stemm­ten. Nach dem Wieder­an­pfiff stell­te Manci­ni die Offen­si­ve um und wurde dafür belohnt. Die Partie blieb tempo­reich, rasant und voller packen­der Szenen. Insignes Freistoß ging drüber (51.), Chiesa schei­ter­te an Pickford (62.). Dann aber schlug der große Moment von Abwehr-Routi­nier Bonuc­ci. Verrat­tis Kopfball parier­te Pickford noch reakti­ons­schnell, ehe der 34-Jähri­ge zum verdien­ten 1:1 abstaubte.

Er ist damit der ältes­te Spieler, der je in einem EM-Finale getrof­fen hat. Im Alter von 34 Jahre und 71 Tagen löste er den frühe­ren deutschen Natio­nal­spie­ler Bernd Hölzen­bein ab, der im EM-Finale 1976 gegen die Tsche­cho­slo­wa­kei im Alter von 30 Jahren und 103 Tagen erfolg­reich war — die DFB-Auswahl verlor im Elfme­ter­schie­ßen. Ins Elfme­ter­schie­ßen ging es diesmal auch — mit dem Happy Ende für Italien. 

Von Nils Bastek, Miriam Schmidt, Jan Mies und Wolfgang Müller, dpa