STUTTGART (dpa/lsw) — Was für ein Vorstoß: Der Sozial­mi­nis­ter drängt den Bund, nach Ostern das Ende der Pande­mie einzu­läu­ten. Eine Forde­rung mit weitrei­chen­den Folgen. Doch dann pfeift ihn Kretsch­mann vom «Team Vorsicht» zurück. Für die Opposi­ti­on ein gefun­de­nes Fressen.

SPD und FDP haben Sozial­mi­nis­ter Manne Lucha (Grüne) nach dem Hin und Her in der Landes­re­gie­rung über das Ende der pande­mi­schen Corona-Lage zum Rücktritt aufge­for­dert. «Jetzt ist es 5 nach 12. Dieser Mann ist als Minis­ter nicht mehr zu halten», sagte SPD-Partei- und Frakti­ons­chef Andre­as Stoch der Nachrich­ten­agen­tur dpa in Stutt­gart. Wer von Minis­ter­prä­si­dent Winfried Kretsch­mann (Grüne) in einer so wichti­gen Frage korri­giert werde, der habe keinen Rückhalt mehr. «Wir fordern ihn auf, sofort zurück­zu­tre­ten.» Auch für FDP-Frakti­ons­chef Hans-Ulrich Rülke ist der Minis­ter nicht mehr haltbar. «Eigent­lich muss Kretsch­mann Lucha entlas­sen bei so einem Fehltritt. Er hat ihn jetzt jeder Autori­tät entklei­det», sagte Rülke der dpa.

Luchas Vorschlag: Corona wie Grippe­vi­rus einstufen

Zuvor hatte Lucha Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl Lauter­bach (SPD) per Brief aufge­for­dert, Ende April den Wechsel von der pande­mi­schen in die endemi­sche Phase einzu­läu­ten. Eine Forde­rung mit weitrei­chen­den Folgen: Das Corona­vi­rus würde dann wie das Grippe­vi­rus einge­stuft, es gäbe praktisch keine Tests und keine vorge­schrie­be­ne Quaran­tä­ne mehr. Am Donners­tag­abend distan­zier­te sich Kretsch­mann von seinem Minis­ter. Der Brief sei nicht mit ihm abgestimmt gewesen, ließ Kretsch­mann erklä­ren. Der 61-jähri­ge Lucha ruder­te am Abend teilwei­se zurück.

SPD liebäu­gelt mit Sonder­sit­zung des Landtags

Stoch sagte, der Minis­ter habe in dieser Pande­mie schon oft gezeigt, «dass er völlig überfor­dert sei». Das habe nun mit Verspä­tung offen­sicht­lich auch Kretsch­mann erkannt, «weil sich Lucha völlig im Dickicht der Corona-Politik verirrt hat». Die SPD behal­te sich vor, eine Sonder­sit­zung des Landtags zu dieser wichti­gen Frage zu beantragen.

Rülke spottet: «So spielt man sich und Land schwindelig»

Rülke hatte Luchas Vorstoß für ein Ende der Pande­mie zunächst begrüßt, sich aber zugleich verwun­dert gezeigt: Während Kretsch­mann sich beim Bund beschwe­re, es fehlten die Instru­men­te im Kampf gegen die Pande­mie, wolle Lucha das Corona­vi­rus wie jedes andere Grippe­vi­rus behan­deln. Nun sagte der FDP-Politi­ker: «Das ist ja eine 180-Grad-Wendung, die eigent­lich nicht zu erklä­ren ist.» Aber dann sei mit Kretsch­mann die zweite 180-Grad-Wende gekom­men. «So spielt man sich und das Land schwindelig.»

Minis­te­ri­um bedau­ert «irrefüh­ren­den Eindruck»

Zuvor hatte der Grünen-Minis­ter in dem Brief an Lauter­bach einen Strate­gie­wech­sel verlangt, auch um die Gesund­heits­äm­ter zu entlas­ten. «Das Verhal­ten sollte vielmehr in die Eigen­ver­ant­wor­tung gegeben werden, für Erkrank­te gilt weiter­hin die Auffor­de­rung, zu Hause zu bleiben.» Am Abend erklär­te sein Sprecher, die Inhal­te des Schrei­bens hätten «offen­bar einen falschen und irrefüh­ren­den Eindruck vermit­telt». Er ergänz­te: «Wir erklä­ren die Pande­mie expli­zit nicht für beendet.» Und: Es gibt keinen Strate­gie­wech­sel bei den Schutzmaßnahmen.»

Es sei dem Minis­ter vor allem darum gegan­gen, die Gesund­heits­äm­ter von unnöti­gen Aufga­ben zu entlas­ten und somit einen Wechsel beim Corona-Manage­ment anzure­gen. «Dabei ging es um einen Impuls für eine gemein­sa­me mittel- und langfris­ti­ge Perspek­ti­ve zu einem Zeitpunkt, ab dem die Pande­mie sich deutlich abschwächt.»

Gesund­heits­äm­ter laufen nur noch hinterher

In dem Brief an Lauter­bach schrieb Lucha, die Gesund­heits­äm­ter hätten wegen der rasan­ten Ausbrei­tung der Omikron-Varian­te keinen Einfluss mehr auf das Ausbruchs­ge­sche­hen. Kontakt­per­so­nen hätten die Infek­ti­on oft schon weiter­ge­ge­ben, bevor ihr Status bekannt werde und die Quaran­tä­ne greifen könne. Wenn die Gesund­heits­äm­ter von diesen überflüs­si­gen Aufga­ben entlas­tet würden, könnten sie sich darauf konzen­trie­ren, Pflege­hei­me und Kranken­häu­ser zu beraten, um größe­re Ausbrü­che zu vermei­den oder besser unter Kontrol­le zu bringen, erklär­te Lucha. Das Infek­ti­ons­ge­sche­hen solle künftig vor allem mit Hilfe von Melde­da­ten der Ärzte überwacht werden.

Fast 40.000 Neuin­fek­tio­nen an einem Tag

Zuletzt hatte Kretsch­mann immer wieder betont, die Pande­mie sei noch nicht zu Ende. Der Grünen-Politi­ker zeigte sich verär­gert darüber, dass die Ampel-Bundes­re­gie­rung nahezu alle Corona-Schutz­maß­nah­men auslau­fen lassen will. Er verwies dabei auf die hohen Inziden­zen. Zuletzt gab es im Südwes­ten fast 40.000 Neuin­fek­tio­nen an einem Tag, das entspricht einer 7‑Tage-Inzidenz von über 1900. Wegen der hohen Dunkel­zif­fer dürfte die Inzidenz im Südwes­ten deutlich höher liegen. Aller­dings sind die Inten­siv­sta­tio­nen der Klini­ken bei weiten nicht mehr so belas­tet, weil die Covid-Erkran­kung bei Omikron im Vergleich zur Delta­va­ri­an­te in der Regel milder verläuft.

Von Henning Otte, dpa