ISTANBUL (dpa) — Recep Tayyip Erdogan ist der einfluss­reichs­te Politi­ker seit Staats­grün­der Musta­fa Kemal Atatürk, doch seine Macht bröckelt. Kann er nach 20 Jahren an der Spitze noch einmal gewinnen?

Der türki­sche Präsi­dent Recep Tayyip Erdogan hat vor Kurzem sein Profil­bild auf Twitter geändert — es zeigt ihn jetzt mit blauer Flieger­ja­cke und Sonnen­bril­le. Entschlos­sen sieht es aus. Stärke statt Schwä­che soll das Bild vor der richtungs­wei­sen­den Wahl am Sonntag ausstrah­len — ein Mann, der sein Land voranbringt.

Doch ob Erdogan die Türkei nach 20 Jahren an der Macht in die Zukunft führen kann, daran gibt es zuneh­mend Zweifel. Das Land leidet unter einer Währungs­kri­se, die Justiz gilt als politi­siert, die Insti­tu­tio­nen als ausge­höhlt. Nach dem Erdbe­ben im Febru­ar mit Zehntau­sen­den Toten wurde Erdogan Versa­gen im Krisen­ma­nage­ment vorgeworfen.

Opposi­ti­ons­füh­rer Kemal Kilicda­ro­g­lu, nicht Erdogan, geht am Sonntag als Favorit ins Rennen. Laut Umfra­ge­insti­tut Metro­poll lag Erdogan bei 44 Prozent und sein Heraus­for­de­rer Kilicda­ro­g­lu bei 46 Prozent.

Die Polit-Welt blickt am Sonntag gen Türkei

Erdogan ist einer der einfluss­reichs­ten Politi­ker seit Musta­fa Kemal Atatürk, der die Republik vor 100 Jahren gründe­te. 2003 wurde Erdogan Minis­ter­prä­si­dent, 2014 Staats­prä­si­dent. Durch eine Verfas­sungs­än­de­rung hat Erdogan seit fünf Jahren weitrei­chen­de Vollmach­ten. Sollte der 69-Jähri­ge erneut an die Macht kommen, werde das Land weiter in die Autokra­tie abglei­ten, befürch­ten manche.

Auch inter­na­tio­nal wird die Abstim­mung aufmerk­sam beobach­tet. Die Türkei ist Nato-Mitglied, EU-Beitritts­kan­di­dat und beher­bergt Millio­nen geflüch­te­te Menschen aus Syrien. Im Ukrai­ne-Krieg unter­hält sie sowohl zu Kiew als auch zu Moskau gute Beziehungen.

Opposi­ti­ons­füh­rer Kemal Kilicda­ro­g­lu tritt für ein breites Bündnis aus sechs Partei­en an. Er will das Land wieder in eine parla­men­ta­ri­sche Demokra­tie führen. Die prokur­di­sche HDP hat ihre Wähler zudem aufge­ru­fen, Kilicda­ro­g­lu zu unter­stüt­zen. Rund 20 Prozent der türki­schen Bevöl­ke­rung sind kurdisch — wie bei vergan­ge­nen Wahlen wird erwar­tet, dass sie den entschei­den­den Unter­schied ausma­chen können.

Erdogan-Heraus­for­de­rer Ince hat aufgegeben

Der Wahlkampf, der ruhig begon­nen hatte, wurde zuletzt immer hässli­cher. Ein belieb­ter Opposi­ti­ons­po­li­ti­ker wurde mit Steinen bewor­fen, Erdogan warf Kilicda­ro­g­lu vor, Terro­ris­ten zu unter­stüt­zen und zeigte sogar ein gefälsch­tes Video, um die Behaup­tung zu unter­mau­ern. Einer der ehemals drei Erdogan-Heraus­for­de­rer, Muhar­rem Ince, gab am Donners­tag auf. Zuvor waren in den vergan­ge­nen Tagen Korrup­ti­ons­vor­wür­fe gegen Ince laut gewor­den und kompro­mit­tie­ren­de Bilder aufge­taucht. Ob diese authen­tisch sind, ist völlig unklar.

Der Innen­mi­nis­ter spricht sogar von einem mögli­chen Putsch am Wahltag. Erdogans ultra­na­tio­na­lis­ti­scher Verbün­de­ter Devlet Bahce­li drohte dem Opposi­ti­ons­bünd­nis vor Kurzem unver­hoh­len mit «entwe­der lebens­lan­gen Haftstra­fen oder Patro­nen in ihre Körper.» Sollte die Opposi­ti­on nur knapp gewin­nen, wächst die Sorge, dass Erdogan das Ergeb­nis nicht akzep­tie­ren könnte.

Präsi­den­ten­wahl könnte auf eine Stich­wahl hinauslaufen

Welch große Bedeu­tung der Wahl beigemes­sen wird, sieht man auch am großen Inter­es­se bei Türken im Ausland. Die Abstim­mung für das Parla­ment und den Präsi­den­ten findet gleich­zei­tig statt. Montag­mor­gen wird wohl festste­hen, wer die meisten Abgeord­ne­ten im Parla­ment gewin­nen konnte — das Bündnis von Erdogans islamisch-konser­va­ti­ver AKP oder die Opposi­ti­on. Die Präsi­den­ten­wahl aber könnte auf eine Stich­wahl am 28. Mai hinauslaufen.

In dem Fall werden sich alle Augen auf das Parla­ment richten: Wer dort die Mehrheit hat, dem werden besse­re Chancen in der zweiten Runde zugerech­net. Denn geht das Präsi­di­al­amt an die Opposi­ti­on und das Parla­ment an die Regie­rung oder umgekehrt, könnten sich beide Seiten gegen­sei­tig blockie­ren. Das wissen auch die Wähler. Wie bei der Präsi­den­ten­wahl, könnte im Parla­ment die prokur­di­sche HDP das Zünglein an der Waage sein.

Die Opposi­ti­on stünde bei Nieder­la­ge vor Scherbenhaufen

Trotz Kritik hat Erdogan noch Chancen zu gewin­nen. Er hatte das Land Anfang der 2000er Jahre in einer Wirtschafts­kri­se übernom­men — und führte es in den Aufschwung. Er sorgte dafür, dass der religiö­se Teil der Gesell­schaft etwas vom Wohlstand abbekam und nicht wie zuvor nur die säkula­re Elite. Wähler rechnen ihm das noch heute hoch an. Manche habe genug von Erdogan, sehen aber keine Alter­na­ti­ve in Kilicda­ro­g­lu, der schon seit 13 Jahren an der Spitze der Opposi­ti­on steht.

Sollte Erdogan wieder an die Macht kommen, stellt sich die Frage, wie er die wirtschaft­li­chen Proble­me in den Griff bekom­men will. Das ginge nach Ansicht von Exper­ten nur mit einer Abkehr von seiner unortho­do­xen Geldpo­li­tik. Außen­po­li­tisch wird Erdogan voraus­sicht­lich seine Annähe­rungs­po­li­tik in der Region fortset­zen. Er wird aber auch auf Europa zugehen müssen, denn er benötigt dringend Inves­ti­tio­nen. Die Opposi­ti­on stünde bei einer Nieder­la­ge vor einem Scher­ben­hau­fen und womög­lich weite­ren Repres­sio­nen. Wahrschein­lich ist, dass sich der Brain­drain bei einem Sieg Erdogans fortsetzt. Schon jetzt sind viele junge gebil­de­te Türken ins Ausland abgewandert.

Kilicda­ro­g­lu will Flücht­lings­pakt neu verhandeln.

Sollte die Opposi­ti­on gewin­nen, würde die Türkei nicht mit einem Schlag demokra­ti­scher. Kilicda­ro­g­lu wird vor allem vor der Heraus­for­de­rung stehen, sein Bündnis auch langfris­tig zusam­men­zu­hal­ten. Er will die Insti­tu­tio­nen wieder unabhän­gig machen und dabei voraus­sicht­lich bei der Zentral­bank anfan­gen. Kilicda­ro­g­lu verspricht zudem, Inves­ti­tio­nen ins zu Land holen und die Abwan­de­rung junger Leute aufzu­hal­ten. Exil-Intel­lek­tu­el­le wie der Journa­list Can Dündar hoffen auf eine Rückkehr in ihr Heimatland.

Außen­po­li­tisch wird keine schar­fe Wendung erwar­tet, denn viele Eckpfei­ler der türki­schen Außen­po­li­tik bleiben gleich. Mit Russland will das Sechser-Bündnis etwa ebenso­gu­te Bezie­hun­gen wie mit den USA. Auch im Ukrai­ne-Krieg sieht es sich als Vermitt­ler. Nachbar Griechen­land guckt mit Sorge auf die extrem natio­na­lis­ti­sche Iyi-Partei in Kilicda­rog­lus Bündnis. Die größte Heraus­for­de­rung für die EU dürfte die Migra­ti­ons­fra­ge werden. Kilicda­ro­g­lu will den sogenann­ten Flücht­lings­pakt neu verhandeln.

Egal, wer am Ende gewinnt, es steht eine Mammut­auf­ga­be bevor. Die wirtschaft­li­chen Proble­me sind gewal­tig, das Land ist polari­siert und das Erdbe­ben hat tiefe Wunden geris­sen, die es zu heilen gilt.

Von Mirjam Schmitt, dpa