BRÜSSEL (dpa) — Hat Putin geglaubt, die Ukrai­ne durch seinen Krieg von einer weite­ren Annähe­rung an den Westen abhal­ten zu können? Wenn ja, dürfte er von den Entwick­lun­gen enttäuscht sein. Nun geht es sogar um einen EU-Beitritt.

Korrup­ti­on auf höchs­ter Ebene, Defizi­te bei Rechts­staat­lich­keit und schwer­wie­gen­de wirtschaft­li­che Proble­me: Noch Anfang dieses Jahres schien es undenk­bar, dass die Ukrai­ne in abseh­ba­rer Zeit Kandi­dat für den Beitritt zur EU werden kann.

Knapp vier Monate nach dem Beginn des russi­schen Angriffs­krie­ges gegen das osteu­ro­päi­sche Land ist die Welt nun eine ganz andere. Aller Voraus­sicht nach wird die EU-Kommis­si­on an diesem Freitag eine Empfeh­lung abgeben, die in der Ukrai­ne für Freude und Erleich­te­rung sorgen dürfte.

Was genau legt die EU-Kommis­si­on heute vor?
Die Behör­de von Präsi­den­tin Ursula von der Leyen wird nach wochen­lan­ger Analy­se eine Stellung­nah­me zu der Frage abgeben, ob das Land den Status als EU-Beitritts­kan­di­dat bekom­men sollte. Damit hatte sie der Rat der EU-Staaten im März beauftragt.

Wie wird die Empfeh­lung der Kommis­si­on ausfallen?
Nach Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur aus der Nacht wird sich die Behör­de unter der Leitung von Ursula von der Leyen voraus­sicht­lich dafür ausspre­chen, der Ukrai­ne den Status als EU-Beitritts­kan­di­da­ten zu geben. Zugleich dürfte nach Angaben aus Kommis­si­ons­krei­sen klar gemacht werden, dass weite­re Fortschrit­te im Beitritts­pro­zess an konkre­te Bedin­gun­gen geknüpft werden sollten. Dabei geht es demnach um Fortschrit­te bei Rechts­staat­lich­keit und im Kampf gegen Korruption.

Was bedeu­tet der Status als EU-Kandidat?
Ohne diesen Status geht auf dem Weg in die EU gar nichts. Er ist Voraus­set­zung dafür, dass zu einem späte­ren Zeitpunkt die Beitritts­ver­hand­lun­gen zum Club der derzeit 27 Länder begin­nen können. Außer­dem berech­tigt der Status zu sogenann­ter Heran­füh­rungs­hil­fe: Geld aus dem EU-Haushalt, das etwa den Wandel der Gesell­schaft, des Rechts­sys­tems und der Wirtschaft der Länder auf dem Weg in EU unter­stüt­zen soll.

Wird ein Kandi­dat auf jeden Fall irgend­wann EU-Mitglied?
Nein, der Kandi­da­ten­sta­tus sagt über einen Beitritt noch gar nichts aus und ist auch nicht mit einem Zeitplan verbun­den. Beispiel Türkei: Das Land ist seit 1999 EU-Beitritts­kan­di­dat — und war wohl noch nie so weit von einer Mitglied­schaft entfernt wie heute. Relevant ist auch, dass jeder Schritt der Annähe­rung immer wieder einstim­mig von der EU-Staaten beschlos­sen werden muss.

Welche Bedin­gun­gen muss ein Land für den EU-Beitritt erfüllen?
Relevant sind vor allem die sogenann­ten Kopen­ha­ge­ner Krite­ri­en, die 1993 bei einem EU-Gipfel in der dänischen Haupt­stadt festge­legt worden sind. Zu ihnen gehören:

- Insti­tu­tio­nel­le Stabi­li­tät als Garan­tie für demokra­ti­sche und rechts­staat­li­che Ordnung, für die Wahrung der Menschen­rech­te sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten

- Eine funkti­ons­fä­hi­ge Markt­wirt­schaft sowie die Fähig­keit, dem Wettbe­werbs­druck und den Markt­kräf­ten inner­halb der EU standzuhalten

- Die Fähig­keit, alle Pflich­ten der Mitglied­schaft – das heißt das gesam­te Recht sowie die Politik der EU (den sogenann­ten «Acquis commun­au­tai­re») – zu überneh­men, sowie das Einver­ständ­nis mit den Zielen der Politi­schen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion

Zudem müssen Kandi­da­ten­län­der das äußerst komple­xe und umfas­sen­de EU-Recht anwen­den können und gewähr­leis­ten, dass wirksam durch natio­na­le Verwal­tung und Justiz umgesetzt wird. Auch muss die EU selbst in der Lage sein, neue Länder aufzu­neh­men und zu integrieren.

Können diese Voraus­set­zun­gen in abseh­ba­rer Zeit erfül­len werden?
Das ist äußerst unwahr­schein­lich. Der Europäi­sche Rechnungs­hof stell­te dem Land noch im vergan­ge­nen Septem­ber ein verhee­ren­des Zeugnis aus. «Obwohl die Ukrai­ne Unter­stüt­zung unter­schied­lichs­ter Art vonsei­ten der EU erhält, unter­gra­ben Oligar­chen und Inter­es­sen­grup­pen nach wie vor die Rechts­staat­lich­keit in der Ukrai­ne und gefähr­den die Entwick­lung des Landes», hieß es damals zu einem Sonderbericht.

Zwar hätten EU-Projek­te und EU-Hilfe dazu beigetra­gen, die ukrai­ni­sche Verfas­sung sowie eine Vielzahl von Geset­zen zu überar­bei­ten. Die Errun­gen­schaf­ten seien aller­dings ständig gefähr­det, und es gebe zahlrei­che Versu­che, Geset­ze zu umgehen und die Refor­men zu verwäs­sern. Das gesam­te System der straf­recht­li­chen Ermitt­lung und Straf­ver­fol­gung sowie der Ankla­ge­er­he­bung bei Korrup­ti­ons­fäl­len auf höchs­ter Ebene sei alles andere als gefestigt.

Wie geht es nach der Empfeh­lung der EU-Kommis­si­on weiter?
Bereits die nächs­te Woche könnte entschei­dend werden. Donners­tag und Freitag werden die Staats- und Regie­rungs­chefs zum EU-Gipfel nach Brüssel kommen und versu­chen, eine gemein­sa­me Haltung zu finden.

Wird es eine Einigung geben?
Das ist alles andere als sicher. Die Positio­nen der Mitglied­staa­ten lagen zuletzt weit ausein­an­der. Staaten wie Polen, Estland, Litau­en, Lettland oder Irland dringen seit Wochen darauf, die Ukrai­ne zügig zum EU-Kandi­da­ten zu machen. Skeptisch sind aber etwa Portu­gal, die Nieder­lan­de und Dänemark. Ein Argument der Erwei­te­rungs­geg­ner ist, dass die EU mit ihrem Prinzip der Einstim­mig­keit etwa in Fragen der Außen- und Sicher­heits­po­li­tik schon jetzt als schwer­fäl­lig gilt. Sie mahnen zunächst inter­ne Refor­men an, ehe neuen Mitglie­dern die Tür geöff­net wird.

Zudem gibt es Länder wie Öster­reich, die fordern, dass auch Bosni­en-Herze­go­wi­na den Kandi­da­ten-Status bekom­men muss, wenn ihn die Ukrai­ne bekommt.

Wie ist die Positi­on der Bundesregierung?
Bundes­kanz­ler Olaf Scholz und der franzö­si­sche Präsi­dent Emmanu­el Macron kündig­ten am Donners­tag bei einem Besuch in Kiew Unter­stüt­zung für den Wunsch der Ukrai­ne an, Beitritts­kan­di­dat zu werden. «Deutsch­land ist für eine positi­ve Entschei­dung zuguns­ten der Ukrai­ne», sagte Scholz.

Welche Länder streben noch in die Europäi­sche Union?
Bereits Beitritts­kan­di­da­ten sind neben der Türkei die Länder Albani­en, Nordma­ze­do­ni­en, Monte­ne­gro und Serbi­en. Hinzu kommen Bosni­en-Herze­go­wi­na und das Kosovo als sogenann­te poten­zi­el­le Kandi­da­ten. Kurz nach der Ukrai­ne hatten sich im März zudem auch Georgi­en und Moldau bewor­ben. Für diese beiden Länder will die EU-Kommis­si­on heute ebenfalls ihre Empfeh­lung vorle­gen. Moldau dürfte dabei ähnlich gut wegkom­men wie die Ukrai­ne. Georgi­en muss hinge­gen damit rechnen, dass es den Kandi­da­ten-Status erst nach der Erfül­lung von Aufla­gen bekommt.

Welche Bedeu­tung hat der Kandi­da­ten-Status für die Ukraine?
Eine mögli­che Annähe­rung an die EU hat für das Land im Krieg mittler­wei­le überra­gen­de Bedeu­tung gewon­nen. Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj erklärt dies immer wieder zu einer histo­ri­schen Frage. Zugleich betont er, dass die Ukrai­ne gegen Russland auch die EU und deren Werte vertei­di­ge. Die kalte Schul­ter der EU wäre wohl auch für die Moral der kämpfen­den Ukrai­ner ein herber Rückschlag — und ein Glücks­fall für Russlands Präsi­den­ten Wladi­mir Putin.

Von Michel Winde und Ansgar Haase, dpa