BERLIN (dpa) — In der Migra­ti­ons- und Integra­ti­ons­po­li­tik hat die Ampel-Koali­ti­on einen «Neuan­fang» angekün­digt. Die Innen­mi­nis­te­rin macht nun einen ersten Schritt.

Afgha­ni­stan gilt nach einer neuen Einschät­zung durch Bundes­in­nen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser jetzt als «Herkunfts­land mit guter Bleibeperspektive».

Asylbe­wer­bern aus dem inzwi­schen wieder von den Taliban regier­ten Land ermög­licht das, bereits vor einer Entschei­dung über ihren Antrag in Deutsch­land an staat­lich finan­zier­ten Integra­ti­ons­kur­sen teilzu­neh­men. Wie die Deutsche Presse-Agentur aus Regie­rungs­krei­sen erfuhr, entschied sich die SPD-Politi­ke­rin für diese Einstu­fung von Afgha­ni­stan, obgleich das dafür in den vergan­ge­nen Jahren gelten­de Krite­ri­um einer «Gesamt­schutz­quo­te» von mehr als 50 Prozent nicht erreicht ist. Vom Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­um wird das neue Votum in einer inter­nen Vorla­ge damit begrün­det, dass schließ­lich davon auszu­ge­hen sei, dass die Schutz­quo­te für Afgha­ni­stan «perspek­ti­visch steigen wird».

Damit hat sich das Innen­mi­nis­te­ri­um jetzt der Sicht­wei­se von Arbeits­mi­nis­ter Huber­tus Heil (SPD) angeschlos­sen. Er hatte Asylbe­wer­bern, die nach dem 1. August 2019 einge­reist sind, bereits Mitte Novem­ber 2021 Zugang zu den von seinem Ressort verant­wor­te­ten Berufs­sprach­kur­sen gewährt. Faesers Amtsvor­gän­ger Horst Seeho­fer (CSU) hatte eine verän­der­te Einstu­fung Afgha­ni­stans damals abgelehnt.

Die sogenann­te Gesamt­schutz­quo­te gibt den Anteil positi­ver Asylent­schei­dun­gen für Menschen aus einem bestimm­ten Land an, dazu zählen etwa auch der einge­schränk­te Flücht­lings­schutz sowie Abschie­bungs­ver­bo­te. Als Herkunfts­län­der mit guter Bleibe­per­spek­ti­ve gelten aktuell Syrien, Eritrea und Somalia.

«Menschen, die zu uns kommen und abseh­bar in Deutsch­land bleiben, müssen wir frühzei­tig integrie­ren», erklär­te Faeser ihre Entschei­dung. Wer aus Afgha­ni­stan geflo­hen sei, werde erst einmal nicht dorthin zurück­keh­ren können. Vielmehr erfor­de­re es die derzei­ti­ge Lage, «dass wir Woche für Woche Menschen aus Afgha­ni­stan evaku­ie­ren». Die Öffnung der Integra­ti­ons­kur­se, auch vor abschlie­ßen­der Entschei­dung im Asylver­fah­ren, sei da «ein längst überfäl­li­ger Schritt».

Bundes­ar­beits­mi­nis­ter Heil sagte am Donners­tag: «Auch hier zeigt sich: Die neue Regie­rung ist ein Bündnis für das Sinnvol­le und das Machba­re zugleich und arbei­tet gemein­sam an pragma­ti­schen Lösun­gen für die bestehen­den Aufga­ben.» Schließ­lich sei Sprache die wichtigs­te Grund­la­ge für gelun­ge­ne Integra­ti­on — in die Gesell­schaft und auch in die Arbeitswelt.

In der Migra­ti­ons­ab­tei­lung des Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­ums herrscht jedoch nach dpa-Infor­ma­tio­nen Skepsis. Begrün­det wird diese in einem «Sonder­vo­tum» damit, dass unklar sei, «anhand welcher objek­ti­ven Krite­ri­en» diese Progno­se vorge­nom­men werde. Außer­dem schaf­fe das einen Präze­denz­fall für andere Herkunftsländer.

Für Afgha­ni­stan lag die sogenann­te Gesamt­schutz­quo­te in den ersten sieben Monaten des vergan­ge­nen Jahres bei rund 39 Prozent. Danach waren Asylent­schei­dun­gen zurück­ge­stellt worden, weil das Bundes­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (Bamf) auf eine neue Einschät­zung der Lage in Afgha­ni­stan durch die Bundes­re­gie­rung warte­te. Seit dem 1. Dezem­ber werden auf Basis neuer Leitsät­ze wieder Entschei­dun­gen zu Anträ­gen von Afgha­nen getroffen.

Die Bundes­wehr war Ende Juni 2021 nach einem 20-jähri­gen Einsatz aus Afgha­ni­stan abgezo­gen. In der Folge des Abzugs aller auswär­ti­gen Streit­kräf­te gewan­nen die militant-islamis­ti­schen Taliban die Oberhand in dem Land, Mitte August auch in der Haupt­stadt Kabul.

Ehema­li­ge Ortskräf­te der Bundes­wehr und anderer deutscher Insti­tu­tio­nen sowie Menschen­recht­ler und weite­re beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Menschen aus Afgha­ni­stan, deren Aufnah­me die Bundes­re­gie­rung zugesagt hat, müssen keinen Asylan­trag stellen. Sie haben grund­sätz­lich Anspruch auf eine Aufent­halts­er­laub­nis, dürfen arbei­ten und an Integra­ti­ons­kur­sen teilnehmen.

Faesers Entschei­dung sei «als klares Signal der neuen Bundes­re­gie­rung für eine locke­re­re Asylpo­li­tik zu werten», sagte der innen­po­li­ti­sche Sprecher der Unions­frak­ti­on, Alexan­der Throm. Bedenk­lich sei insbe­son­de­re, «dass Sie hierdurch mit dem bishe­ri­gen Verfah­ren bricht, dass an objek­ti­ven Krite­ri­en ausge­rich­tet war». Dies werde zu einer Zunah­me von Asylan­trä­gen aus Afgha­ni­stan und aus anderen Ländern führen. Der CDU-Politi­ker beton­te: «Davon losge­löst stehen wir natür­lich zu unseren Verpflich­tun­gen gegen­über den ehema­li­gen Ortskräf­te und beson­ders gefähr­de­ten Perso­nen aus Afghanistan.»

SPD, Grüne und FDP hatten in ihrem Koali­ti­ons­ver­trag festge­hal­ten: «Für eine möglichst rasche Integra­ti­on wollen wir für alle Menschen, die nach Deutsch­land kommen, von Anfang an Integra­ti­ons­kur­se anbie­ten.» Auslän­dern wird in den Kursen neben der deutschen Sprache auch Wissen über die Rechts­ord­nung, Gepflo­gen­hei­ten und die deutsche Geschich­te vermittelt.