Ein wichti­ges Mittel gegen die Ausbrei­tung des Corona­vi­rus ist Abstand halten. Es hat aber erheb­li­che Neben­wir­kun­gen, vor allem für ältere Menschen. Der Hambur­ger Zukunfts­for­scher Horst Opaschow­ski warnt vor einer «Epide­mie der Einsamkeit».

«Die Zahl der Menschen fast ohne jeden mensch­li­chen Kontakt in einer Großstadt ist größer als man denkt», sagt der Leiter des Fachbe­reichs Beratung und Seelsor­ge beim Diako­ni­schen Werk Hamburg, Stefan Deutsch­mann. Die Hambur­ger Telefon­seel­sor­ge habe in der ersten Phase der Corona-Pande­mie zwischen Mitte März und Mitte Mai 25 bis 30 Prozent mehr Anrufe bekom­men als sonst. «Viele Anrufe sind Ausdruck tiefer Einsam­keit von Menschen», sagt Deutschmann.

Bundes­weit haben die rund 100 von den beiden großen Kirchen getra­ge­nen Telefon­seel­sor­ge­stel­len eine ähnlich große Zunah­me der Gesprächs­kon­tak­te verzeich­net. In rund 40 Prozent der Telefo­na­te seien die Einschrän­kun­gen, Verun­si­che­run­gen und Verän­de­run­gen durch die Pande­mie Haupt­the­ma gewesen.

Um Verun­si­che­rung und Ängste drehten sich 16 Prozent der Gesprä­che, um Allein­sein und Einsam­keit 24 Prozent, wie Ulrike Mai, Spreche­rin der Telefon­seel­sor­ge, berich­tet. Auch im Septem­ber dieses Jahres zählte die Telefon­seel­sor­ge mit 81 000 Anrufen weiter­hin mehr als im Vorjah­res­mo­nat. Damals waren es 75 000 gewesen. Zudem hätten sich viele Jünge­re über Mail (insge­samt: 3428 / Septem­ber 2019: 2812) und Chat (2265 / Septem­ber 2019: 1546) gemeldet.

Der Hambur­ger Zukunfts­for­scher Horst Opaschow­ski warnt vor einer drama­ti­schen Zunah­me der Einsam­keit. «Die Pande­mie droht zur Epide­mie der Einsam­keit zu werden. Seit den “Bleib-zu-Hause”-Empfehlungen der Politik wohnen und leben immer mehr Menschen in Deutsch­land “allein daheim”», erklärt Opaschow­ski. In einer reprä­sen­ta­ti­ven Umfra­ge hat er festge­stellt, dass die Sorge vor Verein­sa­mung beina­he genau­so verbrei­tet ist wie die Angst vor Alters­ar­mut. Mitte März dieses Jahres, als in Deutsch­land der Lockdown begann, waren 84 Prozent der Ansicht: «Für viele ältere Menschen wird in Zukunft die Kontakt­ar­mut genau­so belas­tend wie die Geldar­mut sein.» In einer frühe­ren Befra­gung im Januar 2019 hatten nur 61 Prozent dieser Aussa­ge zugestimmt.

Im vergan­ge­nen Mai gaben 80 Prozent der Befrag­ten in einer Umfra­ge des Forsa-Insti­tuts an, beson­ders belas­te sie der fehlen­de Kontakt zu Familie und Freun­den. Die Folgen der Pande­mie hätten viele Menschen auf eine psychi­sche Belas­tungs­pro­be gestellt, erklär­te die Techni­ker Kranken­kas­se (TK), die die reprä­sen­ta­ti­ve Studie in Auftrag gegeben hatte. Die Krank­schrei­bun­gen wegen psychi­scher Erkran­kun­gen nähmen aller­dings schon seit Jahren zu, sagte eine TK-Sprecherin.

Opaschow­ski macht in seinem neuen Buch «Die semiglück­li­che Gesell­schaft» auf die langfris­ti­gen Folgen aufmerk­sam. In der künfti­gen Gesell­schaft des langen Lebens werde die größte Armut im Alter die Kontakt­ar­mut sein, prophe­zeit er. Immer mehr Menschen lebten im Alter allein. Sie hätten deutlich weniger sozia­le Kontak­te als in frühe­ren Jahren, vermiss­ten die Arbeits­kol­le­gen und die Anerken­nung im Beruf, sagt Opaschow­ski. Die Grenzen von Einsam­keit, Depres­sio­nen und psychi­schen Erkran­kun­gen seien fließend.

Die Bundes­psy­cho­the­ra­peu­ten­kam­mer hatte bereits im August auf diese Gefahr hinge­wie­sen. «Neben Depres­sio­nen und Angst­stö­run­gen, akuten und posttrau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­run­gen können auch Alkohol- und Medika­men­ten­ab­hän­gig­keit, Zwangs­stö­run­gen und Psycho­sen zuneh­men», erklär­te Kammer­prä­si­dent Dietrich Munz. Ältere zählten zu den am stärks­ten betrof­fe­nen Gruppen. «Bei vielen, die 75 Jahre und älter sind, wird aus der Angst sich anzuste­cken nicht selten Todes­angst und aus Rückzug totale Isola­ti­on», so die Kammer unter Berufung auf prakti­sche Erfah­run­gen von Psycho­the­ra­peu­ten. «Am Ende quälen sie sich mit der Erwar­tung, wegen Corona allein zu sterben.»