STUTTGART (dpa/lsw) — Schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Probleme im Alltag, Schwierigkeiten beim Ausfüllen von Formularen — Analphabetismus schränkt Menschen immer wieder ein. Corona hat die Lage verschärft. Nun will ein früherer Sportstar dem Problem eine Stimme verleihen.
Die frühere Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll will als Botschafterin des Landes für die Alphabetisierung und Grundbildung stärker auf das Problem des Analphabetismus aufmerksam machen. Die 40-Jährige aus Hohberg in der Ortenau ist nach Angaben des Kultusministeriums eine von bundesweit drei Prominenten, die sich im Auftrag von Bundesländern um dieses Thema kümmern. In Hessen setzt sich der ehemalige Turnweltmeister Fabian Hambüchen ein, in Bayern ist der Profibergsteiger und Extremkletterer Alexander Huber ein Ansprechpartner. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) und Obergföll wollen ihre Ziele am heutigen Montag (11.00 Uhr) in Stuttgart vorstellen.
Schopper nannte Obergföll einen Glücksfall. «Sie ist nicht nur eine herausragende Sportlerin, sondern auch sozial sehr engagiert und setzt sich beispielsweise für krebskranke Kinder ein», sagte die Ministerin.
Bundesweit können rund 6,2 Millionen Erwachsene nicht richtig schreiben, lesen und rechnen sowie keine zusammenhängenden Texte aufnehmen. Sie gelten als sogenannte funktionale Analphabeten. Statistisch gesehen wohnen rund 750 000 von ihnen in Baden-Württemberg. Laut Kultusministerium haben rund zwei Drittel dieser Betroffenen eine Arbeit, mehr als 50 Prozent haben Deutsch als Erstsprache gelernt.
«Um in Beruf und Alltag zurechtzukommen, brauchen Personen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten viel Energie und Phantasie», sagt Knut Becker von der Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg in Stuttgart. Viele hätten sich ausgeklügelte Strategien ausgedacht, um ihr Problem in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein, beim Einkaufen, beim Arztbesuch und auch im Familien- oder Freundeskreis überspielen zu können.
Allerdings haben Corona-Pandemie und Digitalisierung die Situation vieler noch komplizierter gemacht. Ob Online-Anmeldung für einen Impftermin oder das Einchecken mit einer App im Lieblingscafé — wer nicht richtig lesen und schreiben kann, muss nun zusätzliche Hürden meistern. Und für Analphabeten kann bereits die Bedienung eines Mobiltelefons zum Problem werden. «Eine wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft ist so kaum möglich», heißt es dazu im Ministerium.
Zudem konnten die Präsenzkurse für Analphabeten wegen der Corona-Auflagen seit Beginn der Pandemie nicht stattfinden, das machte die Bedingungen noch schwerer. Andere könnte das Online-Angebot allerdings auch zum Lernen motiviert haben. Denn vor allem im ländlichen Raum sind weite Wege oder ein fehlender Führerschein wegen der digitalen Alternative kein Hindernis mehr für eine Kursteilnahme.
«Je länger die Corona-Krise andauerte, umso mehr konnten sich die Kurse und Teilnehmenden auf den Online-Bereich einstellen, so dass Videokonferenzen und Online-Unterricht ebenso immer besser möglich wurden», ergänzt das Kultusministerium. Es zeichne sich ab, dass Kurse mit sogenanntem Blended-Learning-Unterricht — also im Wechsel Online und Präsenz — für die Alphabetisierung und Grundbildung viele Vorteile hätten. Unter anderem könnten einzelne Teilnehmer direkt und besser gefördert werden.