BERLIN (dpa) — Putin ist kein neuer Hitler. Dennoch erkennt der bekann­te Holocaust-Forscher Götz Aly bestimm­te Verhal­tens­mus­ter wieder. Er erklärt auch, warum Putin so oft über ukrai­ni­sche Neona­zis spricht.

Nazi-Verglei­che gehen immer nach hinten los. Das ist eine Grund­re­gel des politi­schen Betriebs. Und doch wird immer wieder dagegen verstoßen.

2014 ließ sich sogar einer der erfah­rens­ten deutschen Politi­ker, der damali­ge Bundes­fi­nanz­mi­nis­ter Wolfgang Schäub­le, zu einem solchen Vergleich hinrei­ßen. Mit Blick auf die von Russlands Präsi­dent Wladi­mir Putin verfüg­te Annexi­on der ukrai­ni­schen Schwarz­meer-Halbin­sel Krim sagte der CDU-Politi­ker: «Mit solchen Metho­den hat schon der Hitler das Sudeten­land übernom­men — und vieles andere mehr.»

Ähnli­che Äußerun­gen kamen damals unter anderem von der ehema­li­gen US-Außen­mi­nis­te­rin Hilla­ry Clinton und vom briti­schen Thron­fol­ger Prinz Charles. Vier Jahre später erreg­te Boris Johnson, damals noch Außen­mi­nis­ter, Aufre­gung mit der Bemer­kung, Putin werde die kommen­de Fußball-WM in Russland zu nutzen verste­hen wie Adolf Hitler die Olympi­schen Spiele von 1936 in Berlin. Seit Beginn des russi­schen Angriffs auf die Ukrai­ne sind solche Verglei­che nun immer häufi­ger zu hören. Putin sei ja fast wie Hitler, heißt es dann. Ist da etwas dran?

Histo­ri­ker: Gleich­set­zung ist absolut unzulässig

Unter Histo­ri­kern herrscht Einig­keit darüber, dass eine Gleich­set­zung von Putin und Hitler absolut unzuläs­sig ist. Hitler war der Haupt­ver­ant­wort­li­che für das in seiner radika­len Verdich­tung und zielstre­bi­gen Organi­sa­ti­on beispiel­lo­se Mensch­heits­ver­bre­chen der Shoah. Sechs Millio­nen europäi­sche Juden wurden binnen drei Jahren ermor­det. Zudem hat Hitler den Zweiten Weltkrieg mit mindes­tens 60 Millio­nen Toten vom Zaun gebro­chen. Das sind völlig andere Dimen­sio­nen als alle Verbre­chen, die Putin zur Last gelegt werden mögen.

Aber: «Verglei­chen heißt nicht gleich­set­zen», wie es der Histo­ri­ker Heinrich August Winkler in einem Beitrag für die «Zeit» mit dem Titel «Was Putin mit Hitler verbin­det» klarge­stellt hat. Verglei­chen bedeu­tet in der histo­ri­schen Forschung immer auch, Unter­schie­de heraus­zu­ar­bei­ten. Wenn das geschieht, handelt es sich um eine anerkann­te wissen­schaft­li­che Metho­de. Es ist zwar äußerst schwie­rig, irgend­wel­che konkre­ten Lehren aus der Geschich­te zu ziehen. Aber im besten Fall können durch einen solchen Vergleich doch gewis­se Muster erkenn­bar werden, die bei der Beurtei­lung aktuel­ler Gescheh­nis­se helfen.

Exper­te hält Paral­le­len für legitim

Götz Aly ist einer der anerkann­tes­ten Holocaust-Forscher und Autor wegwei­sen­der Werke wie «Warum die Deutschen? Warum die Juden?». Auch er betont im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur: «Man kann Hitler und Putin nur sehr parti­ell mitein­an­der verglei­chen. Das muss klar sein. Aber ich halte es für legitim, gewis­se Paral­le­len zu benennen.»

Dazu gehören für ihn die Vorbe­rei­tung und Recht­fer­ti­gung des Krieges. «Auch Hitler hat ja enorme Truppen aufmar­schie­ren lassen, während gleich­zei­tig versi­chert wurde: “Der Führer will nichts anderes als den Frieden”.» Den Überfall auf Polen begrün­de­te Hitler mit dem Schutz der Auslands­deut­schen, die vor — frei erfun­de­nem — «polni­schem Terror» geschützt werden müssten. Putin stützt seinen Aggres­si­ons­krieg auf die Lüge, er müsse einem Genozid an Russen im ostukrai­ni­schen Donbass Einhalt gebie­ten. Ebenso wie die russi­schen Staats­me­di­en den Krieg in der Ukrai­ne jetzt durch­gän­gig als «militä­ri­sche Spezi­al­ope­ra­ti­on» beschö­ni­gen, erteil­te Propa­gan­da­mi­nis­ter Joseph Goebbels am 1. Septem­ber 1939 die Anwei­sung, nicht das Wort «Krieg» zu verwen­den, sondern immer nur von einem «Gegen­schlag» auf einen polni­schen Angriff zu sprechen.

Auch der Histo­ri­ker Winkler («Der lange Weg nach Westen») sieht «frappie­ren­de Paral­le­len» zwischen dem «Anschluss» Öster­reichs, der Anglie­de­rung des Sudeten­lands und der «Zerschla­gung der Rest-Tsche­chei» einer­seits und der Annexi­on der Krim, der Abtren­nung erheb­li­cher Gebie­te des Donbass und dem jetzi­gen Angriffs­krieg auf die Ukrai­ne anderer­seits. «Die Analo­gie des Vorge­hens ist schla­gend», schreibt Winkler in der «Zeit».

«Doch die Paral­le­len gehen noch sehr viel weiter. Auch als “Histo­ri­ker”, sprich als Geschichts­po­li­ti­ker, wirkt Putin wie ein geleh­ri­ger Schüler Adolf Hitlers.» So versu­che auch Putin, die von ihm angestreb­te Wieder­her­stel­lung eines vermeint­li­chen frühe­ren Großreichs histo­risch zu unter­mau­ern. Winkler verweist auf Putins 2021 veröf­fent­lich­ten Aufsatz «Über die histo­ri­sche Einheit der Russen und der Ukrai­ner». Ebenso wie Putin eine russi­sche Einfluss­zo­ne rekla­mie­re, hätten sich auch Hitler und die Nazis auf ein «Inter­ven­ti­ons­ver­bot für raumfrem­de Mächte» etwa in der Tsche­cho­slo­wa­kei berufen.

Putin spiele unter­grün­dig auf Nazi-Kolla­bo­ra­ti­on an

Winkler fühlt sich auch durch Putins Tiraden gegen die angeb­li­chen «Neona­zis» und «Drogen­süch­ti­gen» in Kiew an Hitler erinnert. Aly sieht es ähnlich — mahnt aber gleich­zei­tig zur Vorsicht: «Natür­lich ist es völlig unsin­nig, wenn Putin behaup­tet, in Kiew seien Neona­zis an der Regie­rung.» Aber: «Wie in Russland gibt es auch in der Ukrai­ne sehr harte Rechts­ra­di­ka­le. Man sollte dieses Problem gerade in Deutsch­land nicht ignorie­ren. Der größte ukrai­ni­sche Nazi-Kolla­bo­ra­teur und Antise­mit Stepan Bande­ra hat inzwi­schen 40 Denkmä­ler in der Ukrai­ne. Man muss sich klarma­chen: Nachdem die Deutschen 1941 in der Ukrai­ne einmar­schiert sind, war die Kolla­bo­ra­ti­on dort sehr weit verbrei­tet. Die Deutschen hatten 200.000 ukrai­ni­sche Hilfs­po­li­zis­ten, von denen mindes­tens 40.000 unmit­tel­bar an Juden-Erschie­ßun­gen teilge­nom­men haben. Diese Kolla­bo­ra­ti­on hat nach Osten hin immer weiter abgenom­men. In der Ostukrai­ne war sie schon sehr gering, im heuti­gen Russland hat es sie kaum noch gegeben — es existier­te keine russi­sche Hilfs­po­li­zei der deutschen Besat­zer. Diesen histo­ri­schen Hinter­grund darf man nicht leugnen. Darauf spielt Putin zumin­dest unter­grün­dig an.»

Was Aly mit am meisten beunru­higt, ist sein Eindruck, dass Putin sich zuneh­mend eingräbt und von der Wirklich­keit abkop­pelt: Das steiner­ne Gesicht, die bizarr langen Tische nicht nur im Gespräch mit auslän­di­schen Staats­gäs­ten, sondern auch mit engen Mitar­bei­tern, das öffent­li­che Abkan­zeln seiner Berater. Der seltsa­me, offen­bar jovial gemein­te Auftritt mit Stewar­des­sen. Und dann seine Rheto­rik, in der Russland zuneh­mend als Opfer einer westli­chen Weltver­schwö­rung erscheint — «das wirkt schon irre, das hat etwas von Charlie Chaplins Film “Der große Dikta­tor”. Wir haben es mit einem Menschen zu tun, der sich zum Allein­herr­scher entwi­ckelt hat und wenig Wider­spruch duldet. Führungs­al­ter­na­ti­ven sind ausge­schal­tet. Es sind keine Nachfol­ger sicht­bar im Regierungsapparat.»

Russland komplett auf Putin ausgerichtet

Der italie­ni­sche Dikta­tor Benito Musso­li­ni wurde 1943 vom Faschis­ti­schen Großrat abgesetzt. In Nazi-Deutsch­land, so Aly, wäre das nicht möglich gewesen. Und auch für Putins Russland ist derzeit schwer vorstell­bar, dass sich inner­halb der Staats­spit­ze eine Alter­na­ti­ve formiert – im postso­wje­ti­schen Russland gibt es nicht einmal mehr ein Polit­bü­ro. Der Staat ist komplett auf die Person Putin ausgerichtet.

Putin ist ein einsa­mer Entschei­der. Und er ist jemand, der es sich nicht erlau­ben kann, Schwä­che zu zeigen. «Diese Konstel­la­ti­on kann zu einer irratio­na­len Radika­li­sie­rung führen und zu einem immer obses­si­ve­ren Aufpus­ten der Feind­bil­der», sagt Aly. «Jetzt hat er in einer Rede schon eine Formu­lie­rung wie “endgül­ti­ge Lösung der Ukrai­ne-Frage” verwen­det. Das klingt gefähr­lich.» Die «Selbst­sti­li­sie­rung zum Opfer mächti­ger Feinde» verbin­de Ultra­na­tio­na­lis­ten wie Hitler und Putin, schreibt auch Winkler.

Mit Nachdruck warnt Aly jedoch vor der Behaup­tung «Putin ist der neue Hitler — mit so einem kann man nicht reden». Statt­des­sen müssten alle Gesprächs­ka­nä­le offen gehal­ten werden: «Ich habe auch mit dem Schrö­der-Bashing meine Proble­me. Gerhard Schrö­der wird gewiss nicht gesagt haben “Wladi­mir, mach weiter so!”. Oder der Papst, der vor einer öffent­li­chen Verur­tei­lung erst mit dem Oberhaupt der russisch-ortho­do­xen Kirche, Patri­arch Kirill, sprechen wollte. Auch Israel, China und Indien haben sich den Sanktio­nen nicht angeschlos­sen. Mögli­cher­wei­se, hoffent­lich, kann das ihre Rolle als Vermitt­ler stärken. Das sollte man bedenken.»

Die Chancen von Besänf­ti­gern und Friedens­stif­tern, die nicht eindeu­tig Partei ergrif­fen, könnten vielleicht noch nützlich sein, hofft Aly. «Denn wir müssen den Konflikt einhe­gen und der Ukrai­ne beiste­hen – auch mit Waffen. Aber gleich­zei­tig müssen wir auf eine fried­li­che Lösung hinar­bei­ten. Damit verbin­det sich die Hoffnung, dass sich in fünf, zehn oder 20 Jahren die Bezie­hun­gen mit Russland wieder verbes­sern können.»

Von Chris­toph Dries­sen, dpa