MINNEAPOLIS/WASHINGTON (dpa) — Der Name George Floyd ist untrenn­bar verbun­den mit syste­mi­schen Missstän­den in den USA. Sein Tod löste Massen­pro­tes­te gegen Rassis­mus und Polizei­ge­walt im Land aus. Nun muss der Ex-Polizist, der Floyds Leben beende­te, lange ins Gefäng­nis. Doch es geht um mehr.

Im Prozess um die Tötung des Afroame­ri­ka­ners George Floyd vor gut einem Jahr hat das zustän­di­ge US-Gericht eine Haftstra­fe von 22 Jahren und sechs Monaten gegen den verur­teil­ten weißen Ex-Polizis­ten Derek Chauvin verhängt.

Das Gericht verkün­de­te das Straf­maß in Minnea­po­lis. Floyds Schick­sal steht für viele Ameri­ka­ner stell­ver­tre­tend für struk­tu­rel­len Rassis­mus in den USA. Sein Tod löste 2020 in den USA die größten Bürger­rechts­pro­tes­te der vergan­ge­nen Jahrzehn­te aus.

Kurz vor der Straf­maß­ver­kün­dung gegen Chauvin melde­ten sich mehre­re Angehö­ri­ge Floyds vor Gericht zu Wort und forder­ten die Höchst­stra­fe für den Ex-Polizis­ten. Er dürfe nicht mit einem blauen Auge davon­kom­men, mahnte sie. Floyds Neffe, Brandon Williams, sagte: «Unsere Familie ist für immer zerbro­chen.» Floyds Bruder Philo­ni­se sagte unter Tränen, er habe seit dessen Tod keine Nacht ruhig schla­fen können, weil er von Alpträu­men geplagt sei und den gewalt­sa­men Tod seines Bruders immer und immer wieder vor sich sehe.

Floyds kleine Tochter Gianna sagte per Video­bot­schaft an ihren Vater gerich­tet: «Ich vermis­se dich und liebe dich.» Floyds Bruder Terrence wieder­um richte­te sich direkt an Chauvin und fragte: «Was hast du gedacht, was ging dir durch den Kopf, als du auf den Nacken meines Bruders gekniet hast?» Mehrfach musste er mit den Tränen kämpfen.

Auch Chauvins Mutter, Carolyn Pawlen­ty, äußer­te sich emotio­nal und sagte mit brüchi­ger Stimme, die Öffent­lich­keit kenne nur ein Zerrbild ihres Sohnes. Dieser sei ein guter Mensch: liebe­voll, fürsorg­lich, ehren­haft und selbst­los. «Er hat ein großes Herz.» An ihren Sohn gerich­tet sagte Pawlen­ty: «Ich habe immer an deine Unschuld geglaubt und werde davon niemals abrücken.»

Chauvin, in hellgrau­em Anzug und mit Gesichts­mas­ke, ließ während der Wortmel­dun­gen nach außen hin keine Regung erken­nen. Er äußer­te sich nur knapp: «Ich möchte der Familie Floyd mein Beileid ausspre­chen», sagte er. Wegen eines gericht­li­chen Bundes­ver­fah­rens und einer mögli­chen Berufung könne er zur Zeit keine vollstän­di­ge Stellung­nah­me abgeben. Er hatte in dem Prozess die Aussa­ge verweigert.

Die Vertei­di­gung hatte eine Bewäh­rungs­stra­fe für den 45-jähri­gen Chauvin gefor­dert, die Staats­an­walt­schaft dagegen 30 Jahre Haft. Bei guter Führung könnte Chauvin Exper­ten zufol­ge nach Zweidrit­tel der nun verhäng­ten Haft auf Bewäh­rung freikom­men, also nach 15 Jahren.

Floyd war am 25. Mai vergan­ge­nen Jahres in Minnea­po­lis bei einem bruta­len Polizei­ein­satz ums Leben gekom­men. Beamte nahmen den 46-Jähri­gen fest, weil er eine Schach­tel Zigaret­ten mit einem falschen 20-Dollar-Schein bezahlt haben soll. Videos von Passan­ten dokumen­tier­ten, wie Polizis­ten den unbewaff­ne­ten Mann zu Boden drück­ten. Chauvin press­te dabei sein Knie gut neun Minuten lang auf Floyds Hals, während dieser immer wieder flehte, ihn atmen zu lassen. Floyd verlor das Bewusst­sein und starb wenig später.

Die Video­clips der Szene verbrei­te­ten sich damals rasant. Floyds Tod wühlte die USA auf, löste mitten in der Corona-Pande­mie eine Welle an Demons­tra­tio­nen gegen Rassis­mus und Polizei­ge­walt aus, die sich zur größten Protest­be­we­gung seit Jahrzehn­ten auswuch­sen. Der gesam­te Prozess gegen Chauvin wurde live auf vielen Fernseh­ka­nä­len übertra­gen. Die Erwar­tun­gen an das Verfah­ren waren immens.

Im April befan­den die Geschwo­re­nen Chauvin in allen Ankla­ge­punk­ten für schul­dig. Der schwer­wie­gends­te Ankla­ge­punkt laute­te auf Mord zweiten Grades ohne Vorsatz. Nach deutschem Recht entsprä­che dies eher Totschlag. Zudem wurde Chauvin auch Mord dritten Grades vorge­wor­fen — und Totschlag zweiten Grades. Chauvin hatte auf nicht schul­dig plädiert.

Trotz des dreitei­li­gen Schuld­spruchs wurde das Straf­maß für Chauvin nach gelten­dem Recht im Bundes­staat Minne­so­ta nur für den schwer­wie­gends­ten Ankla­ge­punkt verhängt. Auf Mord zweiten Grades ohne Vorsatz stehen in Minne­so­ta generell bis zu 40 Jahre Haft. Zu Gunsten des Verur­teil­ten wurde berück­sich­tigt, dass dieser nicht vorbe­straft war. Richter Peter Cahill hatte aller­dings die beson­de­re Schwe­re der Tat anerkannt: Chauvin habe als Polizei­be­am­ter seine Macht­stel­lung missbraucht, keine Erste Hilfe geleis­tet und Floyd in Anwesen­heit von Kindern mit «beson­de­rer Grausam­keit» behandelt.

Beendet ist der Fall mit der Entschei­dung zum Straf­maß aber nicht. Chauvin kann Berufung einle­gen. Unabhän­gig von dem Verfah­ren in Minne­so­ta ist gegen ihn außer­dem vor einem Bundes­ge­richt Ankla­ge erhoben worden. Das US-Justiz­mi­nis­te­ri­um teilte zur Begrün­dung mit, dem Beschul­dig­ten werde vorge­wor­fen, Floyd vorsätz­lich seiner verfas­sungs­mä­ßi­gen Rechte beraubt zu haben. Und: Neben Chauvin wurden drei weite­re am Einsatz gegen Floyd betei­lig­te Ex-Polizis­ten angeklagt. Sie werden in einem Verfah­ren in Minnea­po­lis ab März nächs­ten Jahres vor Gericht stehen. Ihnen wird Beihil­fe zur Last gelegt. Auch ihnen könnten mehrjäh­ri­ge Haftstra­fen drohen.

Der Schuld­spruch gegen Chauvin im April war von vielen als Meilen­stein im Kampf gegen die Benach­tei­li­gung von Afroame­ri­ka­nern in den USA gewer­tet worden, gar als eine Art Wende­punkt in der Geschich­te, als Triumph über das, was Viele als jahrzehn­te­lan­ge Straf­frei­heit der Polizei für Verge­hen gegen Schwar­ze beklag­ten. Floyds verzwei­fel­te Worte «Ich kann nicht atmen», die er in seinen letzten Minuten immer und immer wieder hervor­press­te, sind inzwi­schen zu einer Metapher für Rassis­mus und Polizei­ge­walt gegen­über Afroame­ri­ka­nern und anderen Minder­hei­ten in den USA geworden.

Floyd gab der Ungerech­tig­keit einen Namen und ein Gesicht, doch sein Schick­sal ist keines­wegs ein Einzel­fall. Und selbst jene, die den Schuld­spruch bejubel­ten, räumten ein, dies sei nur ein Schritt von vielen, die folgen müssten, im Kampf gegen struk­tu­rel­len Rassismus.

Von Chris­tia­ne Jacke und Benno Schwing­ham­mer, dpa