Erstmals fand das Neujahrs­kon­zert der Wiener Philhar­mo­ni­ker coronabe­dingt ohne Publi­kum statt. Aber der italie­ni­sche Dirigent Riccar­do Muti lief im Golde­nen Saal des Musik­ver­eins in Wien trotz­dem zu Höchst­form auf.

Maestro Riccar­do Muti waren seine 79 Jahre beim berühm­ten Neujahrs­kon­zert der Wiener Philhar­mo­ni­ker nicht anzuse­hen. Immer wieder ließ er sich von der schmis­si­gen Musik zu verwe­ge­nen Knieschwün­gen hinrei­ßen, warf die graue Haarmäh­ne energisch zurück und beton­te den eingän­gi­gen Walzer­takt oft, als schwin­ge er eine Peitsche über das ehrwür­di­ge Orchester.

Im kommen­den Jahr soll Daniel Baren­bo­im (78) das Neujahrs­kon­zert zum dritten Mal nach 2009 und 2014 dirigie­ren, wie das Orches­ter am Freitag bekannt gab.

Muti versprüh­te gute Laune, auch wenn coronabe­dingt erstmals in der 81-jähri­gen Geschich­te der Neujahrs­kon­zer­te kein Publi­kum im Golde­nen Saal des Wiener Musik­ver­eins war. «Die Musik von Strauß passt zu dieser globa­len Situa­ti­on», sagte Muti bei den Proben. «Wir brauchen Musik, die uns zum Lachen bringt und zum Nachdenken.»

Ein Konzert ohne Publi­kum sei ein merkwür­di­ges Gefühl, meinte Muti vorher. «Die “Polka schnell” ist wie ein rasan­ter Zug, der in einem Bahnhof einfährt. Da erwar­tet man, dass jemand dort auf einen wartet und reagiert», sagte er. Doch das Orches­ter wisse, «dass wir mit Millio­nen von Menschen rund um die Welt verbun­den sind. Wir schicken ihnen La Speran­za, die Hoffnung». Das Konzert wird stets in mehr als 90 Länder übertra­gen und erreicht 50 Millio­nen Menschen.

Vor der Zugabe des Walzers «An der schönen blauen Donau» appel­lier­te Muti an die Regie­ren­den in aller Welt: «Betrach­ten Sie Kultur als eines der Haupt­ele­men­te, um eine besse­re Gesell­schaft zu formen.» Mit dem Orches­ter wünsch­te er anschlie­ßend «Prosit Neujahr».

Eine Premie­re war der Live-Applaus, der zweimal durch den Saal zu branden schien. Das machten Sound­tech­ni­ker möglich. 7000 Menschen hatten sich weltweit regis­triert, um über ihr Handy live Applaus zu spenden. Die Einspie­lun­gen kamen aus aller Welt, von Südame­ri­ka bis Japan, von Neusee­land bis Kanada. Dazu waren Fotos von Zuhöre­rin­nen und Zuhörern im Fernse­hen wie auf einer riesi­gen Fotowand zu sehen. Die Musiker nahmen den Applaus freudig entgegen.

Tradi­tio­nell stehen typisch wiene­ri­sche Walzer der Kompo­nis­ten­fa­mi­lie Strauß im Mittel­punkt des Konzerts, sowie Stücke ihrer Wegge­fähr­ten. Muti präsen­tier­te Werke von Johann Strauß Vater (1804–1849), Johann Strauß Sohn ((1825–1899) und dessen Bruder Josef Strauß (1827–1870) sowie zwei «Carls»: den Konzert­wal­zer Gruben­lich­ter von Carl Zeller und die Polka «In Saus und Braus» von Carl Millöcker.

Muti arbei­tet seit 50 Jahren mit den Wiener Philhar­mo­ni­kern zusam­men. Dirigent und Musiker verste­hen sich fast blind. Manch­mal ließ er den Taktstock einfach hängen und hörte einfach zu. «Es ist schwie­rig, diesem Orches­ter mit diesem Reper­toire gegen­über­zu­tre­ten», sagte Muti im Vorfeld. «Ich hatte das Gefühl, da richte ich eher Schaden an.»

Aber natür­lich hält Muti sich nicht für überflüs­sig. «Die Leute glauben, das ist einfa­che Musik. Nein! Wenn du eine Mischung finden willst zwischen deinen Ideen und der Tradi­ti­on, die dem Orches­ter innewohnt, brauchst du einen wirklich guten Piloten.»

Die Musiker saßen in gewohn­ter Konzert­ma­nier dicht beiein­an­der auf der Bühne. Sie mussten während der Proben täglich einen Corona-Test machen. Einmal vergaß Muti die Corona-Bestim­mun­gen und streck­te dem ersten Geiger aus alter Gewohn­heit die Hand entge­gen. Der ergriff sie aber nicht. Statt­des­sen klopf­ten die Musiker mit ihren Bögen symbo­lisch Beifall auf ihre Notenständer.

Muti dirigier­te die Philhar­mo­ni­ker zum sechs­ten Mal beim Neujahrs­kon­zert, erstmals 1993 und zuletzt 2018. Öfter ist diese Ehre nur wenigen zu Teil gewor­den, darun­ter Clemens Krauss, Willi Boskovs­ky und Lorin Maazel. 2020 stand der letti­sche Kapell­meis­ter des Leipzi­ger Gewand­haus­or­ches­ters, Andris Nelsons, am Pult.

Die Philhar­mo­ni­ker gibt es seit 1842, aber das Orches­ter tat die Strauß-Musik — die «Wiene­risch­te Musik, die je geschrie­ben wurde», wie es in den Annalen des Orches­ters heißt — zunächst als Unter­hal­tungs­mu­sik ab. Erst beim 100. Geburts­tag von Johann Strauß Sohn 1925 gaben sie ein ganzes Konzert mit Strauß‘schen Werken.

Die Tradi­ti­on des Neujahrs­kon­zerts begann in einer dunklen Zeit: Im Jahr nach der Einglie­de­rung Öster­reichs in das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutsche Reich fand das erste Neujahrs­kon­zert am Silves­ter­abend 1939 statt. Der Erlös ging an das Kriegs­win­ter­hilfs­werk in Berlin.

In einem Jahr soll alles wieder wie gewohnt über die Bühne gehen, mit 2000 Gästen im Golde­nen Saal. Die Karten kosten bis zu 1200 Euro. Sie werden verlost. Dafür können Inter­es­sen­ten sich im Febru­ar auf der Website der Philhar­mo­ni­ker anmel­den. Nicht alle der 2000 Karten sind in der Verlo­sung, denn die Orches­ter­mit­glie­der haben ein Vorkaufs­recht. Sie laden oft Promi­nen­te ein.