MÜNCHEN (dpa) — Hans Magnus Enzens­ber­gers Stimme hatte Gewicht. Er war ein Sprach­zau­be­rer, politi­scher Denker, ein «Solitär unter Deutsch­lands Dichtern und Denkern».

Ein Mann der leisen Töne war er nicht. Pointiert und gerne unbequem oder gar spöttisch melde­te er sich zu Wort. Nun ist die Stimme eines der bedeu­tends­ten Lyriker und Intel­lek­tu­el­len Deutsch­lands verstummt: Hans Magnus Enzens­ber­ger ist nach Angaben des Berli­ner Suhrkamp Verlags am Donners­tag im Alter von 93 Jahren in München gestor­ben. Der Schrift­stel­ler zählte neben Günter Grass, Martin Walser, Uwe Johnson und Heinrich Böll zu den prägen­den Autoren der bundes­deut­schen Nachkriegs­li­te­ra­tur. Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­er würdig­te ihn als intel­lek­tu­el­le Instanz.

In einem Kondo­lenz­brief an Enzens­ber­gers Witwe Katha­ri­na schrieb Stein­mei­er: «Ihr Mann hat sich nie gescheut, auch die schein­bar so einfa­chen Fragen zu stellen. Unerschöpf­li­che Origi­na­li­tät, überra­schen­de Gedan­ken, Lust an Witz und Ironie waren die unver­kenn­ba­re Signa­tur seiner Werke.» Enzens­ber­ger habe «in Person die Gedan­ken- und Meinungs­frei­heit, die unsere Demokra­tie wie die Luft zum Atmen braucht», verkör­pert. Kultur­staats­mi­nis­te­rin Claudia Roth sprach vom «Solitär unter Deutsch­lands Dichtern und Denkern».

Starke Metaphern und spott­rei­che Anspielungen

Gleich sein erstes Buch hatte Enzens­ber­ger bekannt gemacht: «Die Vertei­di­gung der Wölfe» erschien 1957 — ein schma­ler Lyrik­band. Doch der Tonfall der Gedich­te ließ aufhor­chen: Da melde­te sich einer zu Wort, der mit Sprache zaubern konnte, eine Vorlie­be für starke Metaphern und spott­rei­che Anspie­lun­gen zeigte. Seitdem machte Enzens­ber­ger oft von sich reden — als Intel­lek­tu­el­ler von Format, politi­scher Denker, als eine Stimme von Gewicht in vielen Debatten.

Noch zu seinem 90. Geburts­tag erschien ein neues Werk: In «Fallobst» äußer­te er sich zu vielen aktuel­len Themen, etwa zur Migra­ti­on. Ohne sie würde jede mensch­li­che Gesell­schaft veröden, trotz aller Konflik­te und Schwie­rig­kei­ten, heißt es darin. «Unsere Litera­tur und unsere Sprache wären ohne ihre Aus- und Einwan­de­rer ein trost­lo­ses Heimspiel geblie­ben.» Und Enzens­ber­ger warnte vor «unheil­vol­len Verbin­dun­gen von Geheim- und Nachrich­ten­diens­ten und Inter­net-Konzer­nen»: «Die Rolle des Block­warts und des Denun­zi­an­ten haben Millio­nen Überwa­chungs­ka­me­ras und Mobil­te­le­fo­ne übernommen.»

Am 11. Novem­ber 1929 wurde Enzens­ber­ger in Kaufbeu­ren im Allgäu geboren. Seine Kindheit verbrach­te er in Nürnberg, nach dem Ende des Zweiten Weltkrie­ges betrieb er Schwarz­han­del, um seine Familie zu ernäh­ren, dolmetsch­te für die US-ameri­ka­ni­schen und briti­schen Besat­zer und machte schließ­lich 1949 Abitur in Nördlin­gen. Im Studi­um ging er nach Paris.

«Junger Wilder» der Nachkriegsliteratur

Von seiner Heimat war er desil­lu­sio­niert. Das vierge­teil­te Deutsch­land empfand er als «morali­sche Wüste». Es sei «kein vielver­spre­chen­der Beruf, Deutscher zu sein», erinner­te er sich und in seiner «Vertei­di­gung eines Agnos­ti­kers» notier­te er: «Ich wollte lieber schrei­ben.» Der Nachteil: Ein Gefühl, dass er «nirgend­wo voll und ganz dazugehört».

Mitge­mischt hat der einsti­ge «junge Wilde» der Nachkriegs­li­te­ra­tur dennoch, im legen­dä­ren Litera­tur­club der Bundes­re­pu­blik «Gruppe 47» oder bei den rebel­li­schen 1968ern. Über seine Zeit in der damali­gen Außer­par­la­men­ta­ri­schen Opposi­ti­on (APO) gegen die Große Koali­ti­on in Bonn in den 60er Jahren gibt eines seiner Erinne­rungs­bü­cher mit dem vielsa­gen­den Titel «Tumult» Auskunft. In dieser Zeit gründe­te er auch 1965 das Kultur­ma­ga­zin «Kursbuch». Es waren beweg­te Jahre, in denen Enzens­ber­ger vieles auspro­bier­te. Er war Verlags­lek­tor bei Suhrkamp in Frank­furt, verbrach­te einige Zeit im sozia­lis­ti­schen Kuba, lebte in Norwe­gen, Itali­en, Mexiko, den USA und West-Berlin und kam schließ­lich 1979 nach München.

Zuletzt Gedan­ken über den Lebensabend

Und Enzens­ber­ger schrieb und schrieb: Romane, Essays, Anekdo­ten, Erinne­run­gen und Dramen. Kindern wollte er mit «Der Zahlen­teu­fel» die Mathe­ma­tik näher bringen. Und den Jugend­li­chen widme­te er Bücher wie «Immer das Geld: Ein kleiner Wirtschafts­ro­man» oder «Lyrik nervt». Und natür­lich seine Gedich­te und Balla­den. Doch nicht alles erschien unter seinem Namen. Als Andre­as Thalmayr veröf­fent­lich­te er ebenso Werke wie etwa unter dem augen­zwin­kern­den Pseud­onym Serenus M. Brezen­gang, das aus den Buchsta­ben seines echten Namens besteht. In mehr als 40 Sprachen wurden seine Werke übersetzt.

Zuletzt lebte der Autor in München, nicht weit entfernt vom Engli­schen Garten. In «Fallobst» hatte sich Enzens­ber­ger auch über den Lebens­abend Gedan­ken gemacht. «Jetzt gleiche ich einem Autorei­fen, aus dem langsam die Luft entweicht», notier­te er und sprach von der «Kunst, sich langsam und möglichst unauf­fäl­lig vom Leben zu verab­schie­den». Denn «Lorbeer­bäum­chen, Talkshows, Inter­views geben — das alles mag ich nicht», sagte er einst dem «Süddeut­sche Zeitung Magazin». «Diese naive Eitel­keit, die man braucht, um sich auf einer Bühne wohl zu fühlen, ist mir nicht gegeben.» Viel lieber sei es ihm, wenn die Leute seine Bücher öffneten.