NEW YORK (dpa) – Ein Trümmer­feld in Manhat­tan, ein stürzen­der Mann, der Präsi­dent mit Megafon. Einige Bilder des 11. Septem­ber werden viele nie verges­sen. Doch die Orte und Menschen von damals haben sich verändert.

Bob Beckwi­th wird langsam vergess­lich. Manch­mal stutzt der 89-Jähri­ge mitten im Satz. Dann fragt er seine Frau, worüber er gerade geredet hat.

Doch an den Moment vor 20 Jahren, als er Arm in Arm mit dem Präsi­den­ten der Verei­nig­ten Staaten vor der Weltöf­fent­lich­keit stand, wird der ehema­li­ge Feuer­wehr­mann sich immer erinnern. Es waren die Tage nach den Anschlä­gen vom 11. Septem­ber 2001 und Beckwi­th grub mit Hunder­ten Helfern in den Trümmern des World Trade Center nach Leben. Dann besuch­te George W. Bush Ground Zero.

«Wir hatten keine Ahnung, dass der Präsi­dent kommt. Und falls wir es wussten, hatten wir es verges­sen», erzählt Beckwi­th, der tagelang unermüd­lich nach dem vermiss­ten Sohn eines Freun­des suchte. Er stand gerade auf einem zerstör­ten Feuer­wehr­wa­gen, als Bush auftauch­te. «Und er kommt gerade­wegs auf mich zu, und er streckt den Arm aus, und ich ziehe ihn hoch». Die Bilder die folgen – Bush mit Megafon und dem Arm um Beckwi­th – gehen als Symbol ameri­ka­ni­schen Durch­hal­te­wil­lens um die Welt. 20 Jahre später ist der Feuer­wehr­mann noch immer eines der Gesich­ter der Anschlä­ge des 11. Septem­ber, Held und Opfer zugleich.

Das Schlimms­te in seinem Leben

Die Tage im Jahr 2001 gehör­ten zu den schlimms­ten seines Lebens, sagt Beckwi­th. Er war schon längst pensio­niert, doch als das World Trade Center auch über Hunder­ten Feuer­wehr­leu­ten zusam­men­stürz­te, entschied er sich, seinen Kamera­den zu helfen. «Ich kannte einige von diesen Jungs», meint er. «Vor vielen Jahren habe ich mit ihren Vätern zusammengearbeitet.»

In Beckwi­ths Haus, einein­halb Stunden östlich von Manhat­tan, wo Long Island von schmuck­lo­sen Arbei­ter­vier­teln dominiert wird, hängt heute die US-Flagge, die Bush damals hielt. Seine Frau hat sie zusam­men mit dem Cover des «Time Magazi­ne» von der Szene Rahmen lassen.

Zwei Jahrzehn­te, nachdem Beckwi­th mit seiner Schau­fel in dem Trümmer­feld grub, erfüllt heute das Geräusch plätschern­den Wassers den ehema­li­gen Ground Zero. Nach dem Willen seines Erbau­ers soll sich das Rauschen mit dem eigenen Herzschlag vermi­schen und so der fast 3000 Opfer des schwers­ten Terror­akts der Geschich­te des Landes geden­ken. Die quadra­ti­schen Brunnen, gesäumt von Bäumen, symbo­li­sie­ren die frühe­ren Grund­ris­se des World Trade Center, an ihrem Rand sind die Namen der Opfer graviert.

Unheim­li­che Leere

«Nichts darf dort jemals wieder gebaut werden», dachte Starar­chi­tekt Daniel Libes­kind, als er wenige Wochen nach den Anschlä­gen im Regen zum felsi­gen Funda­ment der Türme hinab­stieg. «Es war eine unheim­li­che, unheim­li­che Leere. Wenn du unten in der Grube bist und zurück auf die Straßen von New York schaust, sehen die Leute aus wie kleine Ameisen», erzählt er. Die Vision des Archi­tek­ten, einen Ort der Erinne­rung zu schaf­fen und das neue Hochhaus an den nördli­chen Rand des Areals zu verban­nen, wurde schließ­lich Wirklichkeit.

Wer heute an diesen Ort hinun­ter­geht, in die riesi­ge Beton­wan­ne des ehema­li­gen World Trade Centers, befin­det sich in dem Museum, das Libes­kind entwor­fen hat. Durch einen Raum hallen die aufge­zeich­ne­ten Stimmen von Überle­ben­den. Sie erzäh­len von ihrer Flucht aus den Türmen. Einige Schrit­te weiter sprechen Angehö­ri­ge die Namen ihrer ermor­de­ten Freun­de, Partner oder Kinder aus. Und auch ein Feuer­wehr­helm mit der Nummer 164 ist ausge­stellt – er gehört Bob Beckwith.

Die Bilder aus New York, für so viele die inoffi­zi­el­le Haupt­stadt der Welt, blieben im Gedächt­nis. Doch die Trümmer­hau­fen des ameri­ka­ni­schen Schick­sals­ta­ges türmten sich damals ebenso im Penta­gon in Washing­ton, in das eines der Flugzeu­ge hinein­pflüg­te und einen Teil des US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums zum Einsturz brach­te. Und auch auf einem Feld im Bundes­staat Pennsyl­va­nia, wo die vierte gekaper­te Maschi­ne durch das Eingrei­fen mutiger Passa­gie­re abstürz­te — an der Stelle steht heute ebenfalls eine Gedenkstätte.

«Dust Lady» und «Falling Man»

Unver­ges­sen sind auch die Opfer, deren Bilder weltwei­te Erschüt­te­rung auslös­ten. So zum Beispiel die komplett mit Staub einge­deck­te «Dust Lady» Marcy Borders, die nach dem 11. Septem­ber zehn Jahre lang nicht arbei­ten konnte. 2015 schließ­lich starb sie mit 42 Jahren an Krebs. Oder «The Falling Man», ein an der Fassa­de des Wolken­krat­zers kopfüber hinun­ter­stür­zen­der Mann, an dessen verstö­ren­dem Foto sich auch viele Künst­ler abarbeiteten.

Es wurde nie zweifels­frei geklärt, wer der «Falling Man» war. Und auch die Identi­tät von vielen weite­ren Toten bleibt ungeklärt — die Deutsche Mecht­hild Prinz arbei­te­te genau daran. Die heute 63-Jähri­ge aus dem Rhein-Sieg-Kreis kam in den 90er Jahren für einen Forschungs­auf­ent­halt nach New York und blieb. Als Gerichts­me­di­zi­ne­rin für die Metro­po­le melde­te sie sich am 11. Septem­ber 2001 direkt für die Nachtschicht.

«Dieser Zusam­men­bruch, der hat ja alles pulve­ri­siert — Schreib­ti­sche, Compu­ter. Da waren viele Leichen natür­lich auch fragmen­tiert», erinnert sie sich. Auf der letzten Vermiss­ten­lis­te der Anschlä­ge in New York stehen 2753 Menschen. In der Gerichts­me­di­zin und bei Prinz in der foren­si­schen Biolo­gie wurden in den Tagen und Wochen danach 289 intak­te Leichen und fast 22.000 Leichen­tei­le angeliefert.

Die Vorga­be: Alles, was aussieht wie mensch­li­ches Gewebe und größer ist als ein halber Daumen, muss getes­tet werden. Die Ergeb­nis­se werden abgegli­chen mit Infor­ma­tio­nen und Materia­li­en, die die Famili­en der Vermiss­ten abgege­ben haben. Die Arbeit ist damals noch nicht digita­li­siert, DNA-Proben gehören nicht zur Routi­ne. «Das war rund um die Uhr, Tag und Nacht», erinnert sich Prinz. «Ich glaube, ich war zwei Tage zu Hause bis Dezember.»

Mühsa­mer Prozess

Die Arbeit dauert noch immer an. Erst 60 Prozent der Opfer sind inzwi­schen identi­fi­ziert. Mit immer neuen Techno­lo­gien und Metho­den wird an den verblei­ben­den Überres­ten gearbei­tet, ein mühsa­mer und langwie­ri­ger Prozess. «Manche Proben sind nicht identi­fi­ziert, weil keine Familie etwas abgege­ben hat, und manche Opfer sind nicht identi­fi­ziert, weil nichts von ihnen gefun­den wurde», sagt Prinz, die inzwi­schen an die Fakul­tät für foren­si­sche Wissen­schaf­ten des John Jay College in Manhat­tan gewech­selt ist.

Prinz glaubt nicht, dass jemals die Identi­tät aller Opfer festge­stellt werden kann. «Und ich glaube, dass manche von den Leichen leider spurlos verschwun­den sind durch den Zusam­men­sturz und die Feuer.» Trotz­dem sei es wichtig, weiter­zu­ma­chen — «weil es den Opfer­fa­mi­li­en verspro­chen worden ist».

Was bleibt ist eine Tragö­die, deren Aufar­bei­tung selbst nach 20 Jahren nicht abgeschlos­sen ist. Und auch Daniel Libes­kind merkt an, dass der neue Komplex des World Trade Center nicht ganz fertig ist: Ein Hochhaus befin­de sich noch im Bau. Ein Bild, das auch Mut macht: New York als Stadt, die nicht nur wieder aufge­stan­den ist, sondern weiter wächst.

Doch während New York trotz Corona-Rückschlä­gen wieder blüht, zahlten viele der Helden vom 11. Septem­ber, die tagelang vielen Giftstof­fen ausge­setzt waren, einen hohen Preis. Bob Beckwi­th muss in einigen Tagen wieder in die Klinik: «Ich werde zum vierten Mal im Kranken­haus operiert, wegen bösar­ti­ger Melano­me in meinem Gesicht», erzählt er. Er nennt es den «Krebs des 11. September».

Von Benno Schwing­ham­mer und Chris­ti­na Horsten, dpa