HERZOGENAURACH (dpa) — Deutsch­land sucht den Super-Stürmer. Portu­gal hat ihn in Ronal­do. Nach dem EM-Fehlstart muss vorne die Null weg. Löw plant keinen radika­len System- und Perso­nal­wech­sel. Ändern soll sich trotz­dem viel.

Joshua Kimmich berich­te­te von einem emotio­na­len Weckruf des Bundes­trai­ners, Joachim Löw nahm seine Führungs­spie­ler nochmal richtig in die Pflicht.

Von Selbst­zwei­feln und Verun­si­che­rung ist vor der hitzi­gen Kraft­pro­be mit Portu­gals EM-Champi­ons um Tormi­na­tor Cristia­no Ronal­do bei der deutschen Fußball-Natio­nal­mann­schaft jeden­falls nichts zu spüren.

Der Bundes­trai­ner schwor seine Spieler mit einer leiden­schaft­li­chen Anspra­che auf das zweite Gruppen­spiel am Samstag (18.00 Uhr/ARD und Magen­ta TV) in der Münch­ner Arena ein. «Er hat uns nochmal heiß gemacht. Er hat uns schon gesagt, dass wir jetzt langsam in den Wettkampf­mo­dus kommen müssen», erzähl­te Bayern-Profi Kimmich.

Schlüs­sel­spie­ler gefordert

Löw machte genau deutlich, worauf es jetzt ankommt. «Wir brauchen viele Schlüs­sel­spie­ler, wenn wir Portu­gal schla­gen wollen», sagte der 61-Jähri­ge kurz vor der Abfahrt aus dem Trainings­camp in Herzo­gen­au­rach nach München. Leich­ter als bei der nicht bestan­de­nen Prüfung gegen den Weltmeis­ter wird es jeden­falls gegen einen «ähnlich starken und einge­spiel­ten Gegner» nicht. «Man muss jede Sekun­de hellwach sein», erklär­te Löw bei Magen­ta TV und forder­te: «Wir müssen mehr nach vorne spielen.»

Sonst droht der deutschen Natio­nal­mann­schaft gleich das nächs­te Turnier­de­sas­ter — und Löw ein DFB-Abschied ohne Applaus. Die Spieler haben verstan­den. «Wir sind nicht hier, um Urlaub zu machen oder früh abzurei­sen. Es geht darum, dass wir das Spiel gewin­nen und weiter­kom­men», sagte Kimmich. Trotz des 0:1 gegen Frank­reich sollten alle gegen die Portu­gie­sen um Star Cristia­no Ronal­do «Überzeu­gung in die eigene Stärke» haben, beton­te der Münchner.

«Müssen uns steigern!»

Die energi­sche Anspra­che des Bundes­trai­ners vor seinen 24 verfüg­ba­ren EM-Spielern um den nach einer kurzen Trainings­aus­zeit zurück­ge­kehr­ten Angrei­fer Serge Gnabry auf dem Trainings­platz dauer­te mehre­re Minuten. Schon vor der abschlie­ßen­den Einheit noch im Basis­camp hatte Löw am Rande des Platzes die weite­re Marsch­rou­te ausge­ge­ben: «Wir haben alles noch in der eigenen Hand. Aber wir müssen uns steigern!»

Bei den letzten Worten ballte Löw mehrmals die Faust. Volle Power ist gefor­dert. Bei «30 Grad», die Löw als Wetter­mann für Samstag­abend vorher­sag­te, kündigt sich auch ein körper­li­cher Abnüt­zungs­kampf an.

Anders als beim Titel­ge­winn 2016 in Frank­reich haben die Portu­gie­sen gleich im ersten Turnier­spiel mit dem 3:0 in Budapest gegen Ungarn in die Spur gefun­den und die Weichen Richtung Achtel­fi­na­le gestellt. Und Portu­gal hat halt Cristia­no Ronal­do, den ewigen Natio­nal­hel­den, der nach den Toren Nummer zehn und elf gegen Ungarn EM-Rekord­schüt­ze ist.

Offen­si­ve gefordert

Bei Deutsch­land wird dagegen ein verläss­li­cher Goalget­ter und Spiel­ent­schei­der seit Jahren vermisst. Aber vorne darf die Null nicht nochmal stehen. «Wir brauchen auf jeden Fall das eine oder andere Tor», sagte auch Löw fast flehend. Nur Wille, Herz und Leiden­schaft reichen nicht, um mit den Besten Europas mithal­ten zu können.

Mehr Mut, mehr Risiko, mehr Entschlos­sen­heit mahnte Kimmich an. Aber wer taugt zum Match­win­ner? Gnabry, Thomas Müller und Kai Havertz bilde­ten ein recht stump­fes Offen­siv-Trio in Spiel eins.

Heißt Löws Lösung Leroy Sané? «Wir wissen, wie gut er ist, wie gut er uns tun kann», warb Ilkay Gündo­gan für den mit Talent geseg­ne­ten Angrei­fer. Auch Timo Werner wartet auf sein «Go» von Anfang an. Oder könnte der unbeküm­mer­te Bayern-Youngs­ter Jamal Musia­la ein Tor-Joker sein? «Wir haben im Offen­siv­be­reich ein bruta­les Überan­ge­bot an Spielern», sagte Champi­ons-League-Sieger Werner. Quanti­tät ist tatsäch­lich vorhan­den — europa­meis­ter­li­che Quali­tät auch?

Gnabry meldet sich fit

Deutsch­land war über Jahrzehn­te das Land der Mittel­stür­mer: Uwe Seeler, Gerd Müller, Horst Hrubesch, Karl-Heinz Rumme­nig­ge, Rudi Völler, Jürgen Klins­mann, Oliver Bierhoff und und und. Die Liste reicht bis zu Miros­lav Klose, dem DFB-Rekord­tor­schüt­zen mit 71 Treffern, für den Löw seit dem WM-Triumph 2014 nach einem Nachfol­ger sucht. Die beste Torquo­te der jünge­ren Vergan­gen­heit verzeich­net noch Gnabry, der aber keine klassi­sche Spitze ist, sondern beim FC Bayern auf dem Flügel spielt. Der 25-Jähri­ge melde­te sich zum Glück fit: Mit einem blauen Tape am linken Knie trainier­te er wieder.

Was verän­dert Löw? Womög­lich nichts — oder nur wenig. Es gab in der kurzen Zeitspan­ne zwischen Frank­reich und Portu­gal keine Hinwei­se auf einen System­wech­sel. Löw könnte sogar dersel­ben Start­elf vertrau­en, zumal er Leon Goretz­ka nach sechs Wochen Wettkampf­pau­se zum wertvol­len Helfer während des Spiels erklär­te. «Er ist natür­lich eine super Option in der zweiten Halbzeit. Sehr wahrschein­lich wird es so sein, dass man ihn bringt.»

Für Löw geht es allen­falls «um Nuancen», die angepasst werden müssen. «Portu­gal spielt etwas anders als Frank­reich», bemerk­te der 61-Jähri­ge. «Wir spielen voll auf Sieg», versprach derweil forsch Abwehr­spie­ler Matthi­as Ginter: «Wir können alles noch gerade­bie­gen.» Auch als Dritter ist ein Weiter­kom­men in der Hammer­grup­pe F möglich. «All in» gehen muss Löw in Spiel Nummer zwei noch nicht zwingend.

Defen­si­ve muss Ronal­do stoppen

In gesten­rei­chen Zwiege­sprä­chen berei­te­te er Ginter und Antonio Rüdiger auf dem Trainings­platz auf ihre große Defen­siv­auf­ga­be gegen Ronal­do vor. Zusam­men mit dem wieder zentral vertei­di­gen­den Mats Hummels soll das Duo die Fußball-Diva ausbrem­sen. «Cristia­no Ronal­do zählt immer noch zu den besten Stürmern der Welt», sagte Ginter über den inzwi­schen 36-Jähri­gen: «Da gilt es, höllisch aufzupassen!»

Zum Schreck­ge­spenst des DFB-Teams und auch von Löw wurde der exzen­tri­sche Weltstar aller­dings noch nie. Viermal spiel­te Ronal­do bei großen Turnie­ren gegen Deutsch­land. Die Bilanz: Kein Tor, kein Sieg, nur Nieder­la­gen und jede Menge Frust und der soll auch am Samstag anhalten.

Von Klaus Bergmann, Jens Mende und Arne Richter, dpa