FRANKFURT/AMSTERDAM (dpa) — Lange hat die Europäi­sche Zentral­bank gezögert, nun geht alles ganz schnell: Erstmals seit elf Jahren will die Noten­bank wieder die Zinsen erhöhen. Die hohe Teuerung zwingt zum Gegensteuern.

Europas Währungs­hü­ter leiten angesichts der Rekord­in­fla­ti­on einen Kurswech­sel ein und machen Sparern Hoffnung auf steigen­de Zinsen.

Die milli­ar­den­schwe­ren Netto-Anlei­hen­käu­fe laufen zum 1. Juli aus, bei der Sitzung am 21. Juli will die Europäi­sche Zentral­bank (EZB) dann die Leitzin­sen um 0,25 Prozent­punk­te anheben. Es wäre die erste Zinser­hö­hung im Euroraum seit genau elf Jahren und voraus­sicht­lich der Anfang einer Serie von Zinsschrit­ten nach oben.

Lagar­de bezeich­net Norma­li­sie­rung als «Reise»

«Der EZB-Rat geht davon aus, dass er die EZB-Leitzin­sen im Septem­ber erneut anheben wird», teilte die Noten­bank nach der auswär­ti­gen Sitzung des Gremi­ums in Amster­dam mit. Dann sei auch «ein größe­rer Zinsschritt» möglich, sollten die mittel­fris­ti­gen Infla­ti­ons­aus­sich­ten unver­än­dert bleiben oder sich verschlech­tern, wie EZB-Präsi­den­tin Chris­ti­ne Lagar­de erläu­ter­te. Die Norma­li­sie­rung der seit Jahren ultra­lo­cke­ren Geldpo­li­tik sei «nicht nur ein Schritt, es ist eine Reise», sagte die Französin.

Bundes­ver­band kriti­siert Plan als “zu zögerlich”

Schon vor der Sitzung am Donners­tag hatte es Forde­run­gen nach einer Zinser­hö­hung um 0,50 Prozent­punk­te gegeben — und das möglichst sogar schon im Juni. «Die EZB kündigt zwar eine erste Leitzins­er­hö­hung im Juli und das Ende der Negativ­zin­sen im Septem­ber an. Dieser Zeitplan ist aller­dings immer noch zu zöger­lich», kriti­sier­te unter anderen der Haupt­ge­schäfts­füh­rer des Bundes­ver­ban­des deutscher Banken (BdB), Chris­ti­an Ossig. «Das funda­men­tal geänder­te Preis­um­feld recht­fer­tigt einen negati­ven Leitzins bis in den Herbst hinein nicht mehr.»

Iris Bethge-Krauß, Haupt­ge­schäfts­füh­re­rin des Bundes­ver­ban­des Öffent­li­cher Banken Deutsch­lands (VÖB), forder­te «einen verläss­li­chen Ausstiegs­plan und über den Sommer konkre­te Zinsschrit­te raus aus der expan­si­ven Geldpolitik».

EZB prognos­ti­ziert Infla­ti­on von 6,8 Prozent

Doch zunächst bleibt der Leitzins im Euroraum auf dem Rekord­tief von null Prozent. Banken müssen für gepark­te Gelder bei der EZB weiter­hin 0,5 Prozent Zinsen zahlen. Viele Geldhäu­ser berech­nen deswe­gen Kunden ab bestimm­ten Summen auf dem Konto ein sogenann­tes Verwahrentgelt.

In den vergan­ge­nen Wochen hatte der Druck auf Europas Währungs­hü­ter zugenom­men, mit Zinsan­he­bun­gen die rekord­ho­he Teuerung einzu­däm­men. Im Euroraum lagen die Verbrau­cher­prei­se im Mai 2022 um 8,1 Prozent über dem Niveau des Vorjah­res­mo­na­tes, in Europas größter Volks­wirt­schaft Deutsch­land sprang die jährli­che Infla­ti­ons­ra­te im Mai mit 7,9 Prozent auf den höchs­ten Stand seit fast 50 Jahren.

Mittler­wei­le rechnet die EZB für das laufen­de Jahr mit 6,8 Prozent Infla­ti­on im Euroraum. Im März war die Noten­bank noch davon ausge­gan­gen, dass die Verbrau­cher­prei­se im Schnitt um 5,1 Prozent über dem Vorjah­res­ni­veau liegen würden. Die EZB strebt für den Währungs­raum der 19 Länder mittel­fris­tig stabi­le Preise bei einer jährli­chen Teuerungs­ra­te von 2 Prozent an. Höhere Infla­ti­ons­ra­ten schmä­lern die Kaufkraft von Verbrau­che­rin­nen und Verbrau­chern, das heißt sie können sich für einen Euro weniger leisten.

Getrie­ben wird die Infla­ti­on seit Monaten vor allem von steigen­den Energie­prei­sen, die nach dem russi­schen Angriff auf die Ukrai­ne nochmals kräftig anzogen. Auch Proble­me in den Liefer­ket­ten sorgen für steigen­de Preise.

Für Ifo-Präsi­dent kommt EZB-Reakti­on zu spät

Ifo-Präsi­dent Clemens Fuest bewer­te­te die EZB-Entschei­dun­gen als «einen richti­gen Schritt, der aber zu spät kommt». Fuest sagte in München: «Die Preis­stei­ge­run­gen betref­fen nicht nur Energie und Lebens­mit­tel, sie gewin­nen an Breite.»

Während andere Noten­ban­ken wie die Federal Reser­ve in den USA oder die Bank of England wegen steigen­der Infla­ti­ons­ra­ten ihre Leitzin­sen bereits mehrmals erhöh­ten, hielten Europas Währungs­hü­ter lange an der Einschät­zung fest, die steigen­de Teuerung sei von Sonder­fak­to­ren getrie­ben und daher vorübergehend.

Auch die Wirtschaft legt schwä­cher zu

Nun versucht die EZB eine Gratwan­de­rung zwischen hoher Infla­ti­on und gestie­ge­nen Risiken für die konjunk­tu­rel­le Erholung aus dem Corona-Tief wegen des Ukrai­ne-Krieges. Die Wirtschaft im Euroraum wird nach der neues­ten EZB-Vorher­sa­ge in diesem Jahr um 2,8 Prozent zulegen. Im März war die EZB noch von 3,7 Prozent Plus ausgegangen.

Ein zusätz­li­che Hürde bei der geldpo­li­ti­schen Norma­li­sie­rung: Die EZB hatte in ihrem länger­fris­ti­gen Ausblick («Forward Guidance») festge­legt, dass sie bei einer Norma­li­sie­rung der Geldpo­li­tik zuerst die Anlei­hen­käu­fe beenden und danach die Zinsen anheben wird. Der Beschluss des EZB-Rates vom Donners­tag, dass die Noten­bank nur noch bis Ende Juni frische Milli­ar­den in den Erwerb von Staats­an­lei­hen und Unter­neh­mens­pa­pie­ren steckt, war also Voraus­set­zung für einen Zinsschritt im Juli. Gelder aus auslau­fen­den Wertpa­pie­ren will die EZB aller­dings «für länge­re Zeit» in neue Anlei­hen reinvestieren.