WIEN/ENERHODAR (dpa) — Nach dem Brand in einem ukrai­ni­schen Atomkraft­werk hat sich nun die Inter­na­tio­na­le Atomener­gie­be­hör­de (IAEA) geäußert. Vorsich­ti­ge Entwar­nung kommt auch vom deutschen Kanzler.

Im ukrai­ni­schen Atomkraft­werk Saporischschja sind zwei ukrai­ni­sche Sicher­heits­mit­ar­bei­ter verletzt worden.

Das berich­te­te der Chef der Inter­na­tio­na­len Atomener­gie­be­hör­de (IAEA), Rafael Grossi, am Freitag in Wien, nachdem laut ukrai­ni­schen Angaben ein Ausbil­dungs­ge­bäu­de des AKWs Feuer gefan­gen hatte. Wodurch die zwei Perso­nen verletzt wurden, sagte Grossi nicht. Die IAEA stehe in ständi­gem Kontakt mit dem AKW und mit ukrai­ni­schen Behör­den. «Es ist mir wichtig zu berich­ten, dass alle Sicher­heits­sys­te­me der sechs Reakto­ren in dem Kraft­werk in keiner Weise beein­träch­tigt sind. Es wurde kein radio­ak­ti­ves Materi­al freige­setzt», sagte Grossi bei einer Pressekonferenz.

Derzeit sei nur einer der sechs Reaktor­blö­cke in Betrieb. Die anderen seien abgeschal­tet worden oder wegen routi­ne­mä­ßi­gen Wartungs­ar­bei­ten außer Betrieb. Bei dem im AKW-Gelän­de gelager­ten abgebrann­ten Nukle­ar­brenn­stoff seien keine Proble­me aufge­tre­ten. Das Feuer auf dem Gelän­de des AKW wurde nach Angaben des ukrai­ni­schen Innen­mi­nis­te­ri­ums inzwi­schen gelöscht.

Grossi schlug Verhand­lun­gen zwischen Russland und der Ukrai­ne am Gelän­de des ukrai­ni­schen Unfall­re­ak­tors Tscher­no­byl unter seiner Schirm­herr­schaft vor. Dabei sollten sich beide Seiten verpflich­ten, die Sicher­heit der ukrai­ni­schen Atoman­la­gen zu garantieren.

Auch nach Darstel­lung der ukrai­ni­schen Behör­den gibt es keine erhöh­te Strah­lung. Es seien keine Verän­de­run­gen regis­triert worden, teilt die zustän­di­ge Aufsichts­be­hör­de bei Facebook mit. «Für die Sicher­heit von Kernkraft­wer­ken wichti­ge Syste­me sind funkti­ons­fä­hig.» In dem AKW sei aktuell nur der vierte Block in Betrieb. In einem Block liefen geplan­te Repara­tur­ar­bei­ten, andere seien vom Netz genom­men, hieß es.

Keine erhöh­te Strah­lung gemessen

Auch nach russi­schen Angaben ist keine erhöh­te Strah­lung gemes­sen worden. Russi­sche Truppen hätten bereits seit dem vergan­ge­nen Montag die Kontrol­le «über die Stadt Enerho­dar, das Kernkraft­werk Saporischschja und das angren­zen­de Gebiet», teilt das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in Moskau am Vormit­tag zudem mit. Das Perso­nal in Europas größtem Atomkraft­werk arbei­te normal weiter, sagte Minis­te­ri­ums­spre­cher Igor Konaschen­kow der Agentur Inter­fax zufolge.

Konaschen­kow warf Kiew vor, mit den Berich­ten über den Brand eigene Inter­es­sen zu verfol­gen: «Der Zweck der Provo­ka­ti­on des Kiewer Regimes in der Nukle­ar­an­la­ge ist ein Versuch, Russland der Schaf­fung einer Brutstät­te radio­ak­ti­ver Konta­mi­na­ti­on zu beschul­di­gen», sagte Konaschenkow.

Scholz: Keine radio­ak­ti­ve Strahlung

Das Feuer war nach dem Vormarsch russi­scher Truppen auf das größte Atomkraft­werk Europas ausge­bro­chen. Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj sprach von einem geziel­ten Beschuss von Reaktor­blö­cken durch russi­sche Panzer. Der ukrai­ni­sche Zivil­schutz teilte mit, bei den Lösch­ar­bei­ten seien 44 Rettungs­kräf­te im Einsatz gewesen.

Es sei nicht zu einem Austre­ten radio­ak­ti­ver Strah­lung gekom­men, sagte Bundes­kanz­ler Olaf Scholz bei einem Besuch des Einsatz­füh­rungs­kom­man­dos der Bundes­wehr in Schwie­low­see bei Potsdam. «Es zeigt aber, wie gefähr­lich die Situa­ti­on ist. Kriege führen immer dazu, dass Zerstö­run­gen angerich­tet werden, wo sie vielleicht auch keine der Kriegs­par­tei­en wirklich vorhat, aber die trotz­dem ihre schreck­li­chen Auswir­kun­gen haben können.» Deswe­gen sei es wichtig, solche Eskala­tio­nen zu vermei­den. Scholz hatte zuvor mit dem ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Wolodym­yr Selen­skyj telefoniert.

Bürger­meis­ter: Lage «extrem angespannt»

Der Bürger­meis­ter des in der Nähe liegen­den Ortes Enerho­dar bezeich­net die Lage als «extrem angespannt». «Wir empfeh­len, zu Hause zu bleiben», schrieb Dmytro Orlow am Morgen im Nachrich­ten­ka­nal Telegram. Auf den Straßen sei es aber ruhig, es seien keine Ortsfrem­den da. Damit meinte er offen­bar russi­sche Truppen. «In der Nacht blieb Enerho­dar während des Beschus­ses wegen Schäden an einer Leitung ohne Heizung.» Nun werde nach Wegen gesucht, den Schaden zu beheben, schrieb er weiter. Am Morgen habe es keinen Beschuss mehr gegeben.

Keine unmit­tel­ba­re Gefahr

Die Gesell­schaft für Anlagen- und Reaktor­si­cher­heit (GRS) sieht keine unmit­tel­ba­re Gefahr eines Atomun­falls. Zwar sei das Gelän­de laut der ukrai­ni­schen Aufsichts­be­hör­de von russi­schen Truppen umstellt oder besetzt, sagte GRS-Abtei­lungs­lei­ter Sebas­ti­an Stran­sky der Deutschen Presse-Agentur. Die Betriebs­mann­schaf­ten würden jedoch in ihrem regulä­ren Betriebs­mo­dus arbeiten.

«Zum jetzi­gen Zeitpunkt ist das Kraft­werk laut Aufsichts­be­hör­de in siche­rem Zustand und wird entspre­chend den Betriebs­vor­schrif­ten durch die Betriebs­mann­schaft betrie­ben», sagte der Abtei­lungs­lei­ter Inter­na­tio­na­le Projek­te bei der GRS. «Wichtig ist, dass das Betriebs­per­so­nal in Ruhe arbei­ten kann und regel­mä­ßig im Schicht­be­trieb ausge­wech­selt wird.» Das Trainings­zen­trum, in dem ein Brand gemel­det worden war, befin­de sich auf dem Gelän­de des Stand­or­tes in größe­rer Entfer­nung zu den Reaktor­an­la­gen. Außer­dem sei in der Nacht auf Freitag auf ein Neben­ge­bäu­de des Kraft­werk­blo­ckes 1 geschos­sen worden. Es habe einen Treffer abgekom­men und sei beschä­digt worden, so die GRS. Sicher­heits­re­le­van­te Teile seien aber nicht betroffen.

Von den sechs Blöcken der Anlage sei derzeit nur einer, Block 4, am Netz. Dessen Leistung sei wahrschein­lich aufgrund des derzeit gerin­ge­ren Strom­be­darfs in der Ukrai­ne etwas gedros­selt worden. Die übrigen abgeschal­te­ten Blöcke befän­den sich im Abschalt­be­trieb. In diesem Zustand müssten die Brenn­ele­men­te dauer­haft nachge­kühlt werden. «Die Wärme wird abgeführt mit den ganz norma­len, dafür vorge­se­he­nen Syste­men.» Alle sechs Blöcke befän­den sich aus kerntech­ni­scher Sicht in einem siche­ren Zustand, beton­te Stransky.

Einschät­zung von Experten

Fachleu­te versu­chen eine erste Lageein­schät­zung nach dem Brand in einem Gebäu­de des ukrai­ni­schen Atomkraft­werks Saporischschja zu geben. «Das echte Problem ist nicht eine katastro­pha­le Explo­si­on wie in Tscher­no­byl, sondern ein Schaden am Kühlungs­sys­tem. Das braucht man auch, wenn der Reaktor abgeschal­tet ist. Es war diese Art von Schaden, der zum Unfall in Fukushi­ma führte», sagte David Fletcher von der Univer­si­tät Sydney.

Der austra­li­sche Nukle­a­r­in­ge­nieur Tony Irwin hob aller­dings Unter­schie­de der Anlage zu denen im japani­schen Fukushi­ma und im ukrai­ni­schen Tscher­no­byl hervor, wo es 2011 und 1986 schwe­re Atomun­fäl­le gegeben hatte. Das Kraft­werk in Saporischschja habe — anders als das in Fukushi­ma — einen separa­ten Wasser­kreis­lauf für die Kühlung. Zudem gebe es spezi­el­le Kühlungs­sys­te­me für den Notfall.

Zudem habe die jetzt betrof­fe­ne Anlage — anders als die in Tscher­no­byl — eine beson­de­re Schutz­schicht, um eine Freiset­zung von Radio­ak­ti­vi­tät zu verhin­dern. «Der Reaktor ist von einer massi­ven Schutz­hül­le aus Beton umgeben, die ihn vor Feuer zu schützt», sagte Irwin.

Maria Rost Rublee von der Monash Univer­si­tät in Austra­li­en sagte: «Es gibt erheb­li­che Sorge, dass es zu einer Kernschmel­ze kommt, wenn irgend­ein Teil des Kerns betrof­fen ist. Das wäre eine Katastrophe.»

Geziel­ter Angriff wäre ein Kriegsverbrechen

Ein geziel­ter russi­scher Angriff auf ein ukrai­ni­sches Atomkraft­werk wäre nach Einschät­zung des Völker­recht­lers Claus Kreß als Kriegs­ver­bre­chen einzu­ord­nen. «Ein geziel­ter Angriff auf ein zivil genutz­tes Kernkraft­werk, ja, das wäre ein Kriegs­ver­bre­chen», sagte der Kölner Wissen­schaft­ler am Freitag im Deutsch­land­funk. Ein solcher Fall fiele in die Zustän­dig­keit des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs in Den Haag. Kreß berät dort Chefan­klä­ger Karim Khan, der offizi­el­le Ermitt­lun­gen zu Kriegs­ver­bre­chen in der von Russland angegrif­fe­nen Ukrai­ne einge­lei­tet hat.

Umwelt­mi­nis­te­ri­um: «Wir beobach­ten die Lage»

Nach einem Brand auf dem Gelän­de eines ukrai­ni­schen Atomkraft­werks infor­mie­ren das Bundes­um­welt­mi­nis­te­ri­um (BMUV) und das Bundes­amt für Strah­len­schutz auf ihren jewei­li­gen Websei­ten fortlau­fend über die Gefähr­dungs­la­ge. «Nach russi­schem Beschuss in der Ukrai­ne ist im Atomkraft­werk Saporischschja nach Infor­ma­tio­nen der Inter­na­tio­na­len Atomener­gie-Organi­sa­ti­on (IAEO; englisch Inter­na­tio­nal Atomic Energy Agency, IAEA) ein Feuer ausge­bro­chen. Das Ausmaß der Schäden ist bislang unklar», schrieb das Minis­te­ri­um am Morgen. Das Feuer sei von den ukrai­ni­schen Einhei­ten des staat­li­chen Rettungs­diens­tes gelöscht worden, hieß es weiter. Alle radio­lo­gi­schen Messwer­te an dem Kraft­werk beweg­ten sich «weiter im norma­len Bereich». Das BMUV und das Bundes­amt für Strah­len­schutz erklär­ten, fortlau­fend über relevan­te Entwick­lun­gen zu infor­mie­ren. Deutsch­land verfü­ge seit vielen Jahren über Instru­men­te zur Bewer­tung einer radio­lo­gi­schen Lage, beispiels­wei­se das Integrier­te Mess- und Infor­ma­ti­ons­sys­tem IMIS, hieß es dazu. «Sollte das BMUV Hinwei­se haben, dass sich ein radio­lo­gi­scher Notfall mit erheb­li­chen Auswir­kun­gen in der Ukrai­ne ereig­net, würde das radio­lo­gi­sche Lagezen­trum des Bundes im BMUV die Lage bewer­ten, die Öffent­lich­keit infor­mie­ren und, soweit erfor­der­lich, Verhal­tens­emp­feh­lun­gen geben.» Beide Behör­den raten nach wie vor «dringend von einer selbst­stän­di­gen Einnah­me von Jodta­blet­ten ab». Eine Selbst­me­di­ka­ti­on berge erheb­li­che gesund­heit­li­che Risiken und habe aktuell «keiner­lei Nutzen».

Bürger können sich sowohl auf der Websei­te des Bundes­amts für Strah­len­schutz als auch auf der Websei­te «jodblockade.de» über die nuklea­re Sicher­heits­la­ge informieren.

Skandi­na­vi­en zeigt sich besorgt

Skandi­na­vi­en zeigt sich besorgt über die Kämpfe am ukrai­ni­schen Atomkraft­werk Saporischschja. Schwe­dens Außen­mi­nis­te­rin Ann Linde teilte ihre Sorgen am Morgen auf Twitter und forder­te, dass die wirksa­me Kontrol­le des Kraft­werks durch die ukrai­ni­schen Behör­den sicher­ge­stellt werden müsse. «Die Sicher­heit der Atoman­la­gen in der Ukrai­ne darf unter keinen Umstän­den gefähr­det werden.» Die Minis­te­rin verlink­te auf einen Tweet des General­di­rek­tors der Inter­na­tio­na­len Atomener­gie­be­hör­de IAEA, Rafael Grossi. Dieser appel­lier­te darin an alle Betei­lig­ten, von Schrit­ten abzuse­hen, die eine Gefahr für Kernkraft­wer­ke darstel­len könnten.

Norwe­gens Minis­ter­prä­si­dent Jonas Gahr Støre sagte dem norwe­gi­schen Rundfunk, man verfol­ge die Situa­ti­on in Saporischschja genau. Zugleich unter­strich er, dass der Vorfall die völlig inakzep­ta­ble Natur des Krieges zeige. «Das grenzt ja an Wahnsinn, auf diese Weise anzugrei­fen», sagte Støre dem Rundfunk­sen­der NRK.

Die austra­li­sche Regie­rung hat sich zutiefst besorgt über das Feuer auf dem Gelän­de des ukrai­ni­schen Atomkraft­werks Saporischschja gezeigt. Außen­mi­nis­te­rin Marise Payne sprach am Freitag auf Twitter von «Rücksichts­lo­sig­keit» des russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin. Der von ihm ausge­lös­te Krieg stelle «eine direk­te Bedro­hung für die kriti­sche Infra­struk­tur in der Ukrai­ne, einschließ­lich der Atomkraft­wer­ke, dar», schrieb die Ministerin.