BERLIN (dpa) — Gibt es Impfneid und Impfscham? Also das Missgön­nen der Sprit­ze oder das Unwohl­sein, beim Reden über den eigenen Schutz? Psycho­lo­gen sind sich da nicht ganz einig. Aber es lässt sich was dagegen tun.

Im Berli­ner Frisier­sa­lon läuft die Diskus­si­on heiß. «Ich gönne jedem von Herzen seine Impfung. Aber wieso bekom­me ich keine?», fragt die Friseu­rin in die Runde. «Ist das hier keine körper­na­he Dienstleistung?»

In einer Klein­stadt in Baden-Württem­berg wagt ein junger Mann nicht zu sagen, dass er geimpft ist. Er fürch­tet Neider. Oder Nachfra­gen. Über seine Krank­heit möchte aber er nicht sprechen. Gibt es das in großem Stil — so etwas wie Impfneid und Impfscham?

Die sozia­len Netzwer­ke sind voll mit Fotos von Oberar­men mit Pflas­ter oder Bildern von Impfpäs­sen. Macht das etwas mit den Betrach­tern? Liegt es am Charak­ter, ob ein Mensch sich mitfreut oder neidisch wird?

Neid gehört zur mensch­li­chen Evolution

Philo­so­phen, Ethiker und Kirchen­män­ner haben sich durch alle Zeiten mit dem Phäno­men Neid ausein­an­der­ge­setzt. Sie haben es als «Trauer über das Gut des anderen» definiert, es zur Todsün­de erklärt oder vor «gemein­schafts­schä­di­gen­der Wirkung» gewarnt. Sie entdeck­ten neben der böswil­li­gen Varian­te auch konstruk­ti­ve Züge, zum Beispiel einen Ehrgeiz­schub, um das zu errei­chen, was der andere schon hat.

Einig sind sich viele Forscher heute: Der Vergleich mit anderen gehört zur mensch­li­chen Evolu­ti­on. In der Bibel beginnt es mit Kain und Abel und es geht nicht gut aus. «Der Neid ist die aufrich­tigs­te Form der Anerken­nung», schrieb dagegen der Humorist Wilhelm Busch.

Doch gibt es so etwas wie Impfneid? «Ich würde das nicht so sehr als klassi­schen Neid bezeich­nen», sagt Isabel­la Heuser, Direk­to­rin der Klinik und Hochschul­am­bu­lanz für Psych­ia­trie und Psycho­the­ra­pie an der Berli­ner Chari­té. Es sei mehr ein Gefühl von Zurück­set­zung. «Dahin­ter steckt die Angst, dass man zu kurz kommt und an Covid erkrankt, auch schwer.» Diese Angst werde noch befeu­ert, wenn ein Impfstoff ratio­niert werde — oder auch durch neue Mutanten.

Neid sei in dieser Situa­ti­on vollkom­men verständ­lich und sollte auch nicht tabui­siert werden, sagt dagegen der Psycho­ana­ly­ti­ker Eckehard Pioch, Mither­aus­ge­ber des Buchs «Neid. Zwischen Sehnsucht und Zerstö­rung» im Berli­ner Infora­dio. «Ich brauche etwas dringend und habe es nicht. Ich sehe aber jemand anderen, der es bereits hat. Dann entsteht dieses Gefühl, diese Mischung aus Angst, Wut und Traurig­keit, die wir Neid nennen.»

Emotio­na­le Gemengelage

Im Frisier­sa­lon klingt das nicht ganz so akade­misch. «Erst erklä­ren sie uns für system­re­le­vant», sagt die Friseu­rin wütend. «Obwohl ich jetzt echt nicht finde, dass ein Haarschnitt ein Menschen­recht ist.» Und jetzt? Fühlt sie sich hängen­las­sen von der Politik, hat Briefe geschrie­ben an die Gesund­heits­se­na­to­rin und den Bürger­meis­ter. «Keine Antwort.» Dass sie Angst hat, sich anzuste­cken, sagt sie leiser. Ja, jeder Kunde müsse einen Schnell­test mitbrin­gen. «Aber die sind 24 Stunden gültig. Da kann viel passieren.»

Für Psycho­lo­gin Heuser ist die hochemo­tio­na­le Gemenge­la­ge eine Folge von Verfüg­bar­keit, wenn ein lebens­wich­ti­ges Gut wie Impfstoff knapp ist. «Da kommt der egozen­tri­sche Drang in jedem hoch: Ich will das aber auch.»

Pro Woche zwei Fläschen Impfstoff

In einer Berli­ner Hausarzt­pra­xis regt sich der Doktor auf, dass er gerade einen kernge­sun­den Steuer­fahn­der impfen musste. «Priori­siert», sagt er. «Ich krieg pro Woche zwei Fläschen Impfstoff für die ganze Praxis.» Und beim Nieren­spe­zia­lis­ten neben­an seien die Organ­trans­plan­tier­ten noch immer nicht immuni­siert. «Da haut doch irgend­was nicht hin.»

Auch Chari­té-Ärztin Heuser kennt solche Stimmun­gen. «Es ist das Misstrau­en, ob allen Geimpf­ten ihre Immuni­sie­rung auch zusteht», sagt sie. Sie selbst habe erlebt, dass zwei Menschen, die weder vom Alter noch von ihrer Gesund­heit her berech­tigt gewesen seien, eine Impf-Beschei­ni­gung von ihrem Arzt bekom­men hätten. «Ich finde das moralisch verwerf­lich, auch von dem Arzt», urteilt sie. «Die beiden haben das trium­phie­rend erzählt. Das ist dann noch ein Stück widerlicher.»

Gibt es auch das Gegen­teil? Impfscham, also die Sorge berech­tig­ter Menschen über ihre Piks zu reden? «Muss man ja nicht», sagt Heuser. «Aber wenn, würde ich jedem Berech­tig­ten raten, eine Erklä­rung dazuzu­sa­gen.» Niemand müsse dabei jedoch in Einzel­hei­ten gehen und zum Beispiel eine chroni­sche Krank­heit offen­ba­ren. «Die Reaktio­nen werden ja deshalb gefürch­tet, weil man unter dem Verdacht steht, dass man sich unberech­tig­ter­wei­se vorge­drän­gelt hat.» In einer Situa­ti­on, in der es ohnehin genug gesell­schaft­li­che Konflik­te gebe, sei es durch­aus sinnvoll, Spannung herauszunehmen.

Debat­te über Freihei­ten für Geimpfte

Doch der Druck wächst, vor allem mitten in der Debat­te, welche Freihei­ten Geimpf­te zurück­be­kom­men könnten. «Dass ihnen Freihei­ten, die ihnen zuste­hen, wieder zurück­ge­ge­ben werden, das finde ich richtig», sagt Heuser spontan. Aber genau das könne natür­lich den Drang nach der Impfung noch immens vergrö­ßern. Und damit auch die Emotio­na­li­tät bei diesem Thema.

Auf den Ethik­rat ist die Psycho­lo­gin bei Freiheits­fra­gen weniger gut zu sprechen. «Er entwi­ckelt meiner Meinung nach keine wirklich pragma­ti­schen Lösun­gen.» Sie finde es gut, wenn sich ein Land auf eine Priori­sie­rung verstän­di­ge — welche auch immer. «Dann muss man sie aber auch mit allen Folgen vertre­ten. Auch wenn es dabei Enttäu­schun­gen bei den Teilen der Bevöl­ke­rung gibt, die noch nicht mit der Impfung dran sind.»

Psycho­ana­ly­ti­ker Pioch sieht die Bundes­bür­ger nicht hilflos ihren Emotio­nen ausge­lie­fert. Gut sei es, konstruk­tiv auf Neidge­füh­le zu reagie­ren, rät er im Infora­dio. Das begin­ne damit, sie sich einzu­ge­ste­hen. Beim Warten auf die Impfung helfe es, sich bewusst zu machen, dass es eine Reihen­fol­ge nach Bedürf­tig­keit gebe. Das könne trösten. Denn es sei auch etwas zutiefst Humanes, sich zuerst um die Schwa­chen zu kümmern.

Von Ulrike von Leszc­zyn­ski, dpa