BERLIN (dpa) — Im Frühjahr kamen Vorwür­fe gegen «Bild»-Chefredakteur Julian Reichelt zu Macht­miss­brauch auf. Reichelt bekam eine zweite Chance. Jetzt gibt es neue Medien­be­rich­te, und der Konzern zieht einen Schlussstrich.

Der Medien­kon­zern Axel Sprin­ger hat mit sofor­ti­ger Wirkung «Bild»-Chefredakteur Julian Reichelt von seinen Aufga­ben entbun­den. Das teilte das Unter­neh­men am Montag in Berlin mit.

Neuer Vorsit­zen­der der «Bild»-Chefredaktion wird Johan­nes Boie. Der 37-Jähri­ge ist derzeit Chefre­dak­teur der zu Sprin­ger gehören­den Zeitung «Welt am Sonntag». Reichelt verlässt den Medien­kon­zern und damit auch Deutsch­lands größte und aufla­gen­stärks­te Boulevardzeitung.

Sprin­ger begrün­det das Ende der Zusam­men­ar­beit mit dem 41-Jähri­gen an der Spitze so: «Als Folge von Presse­re­cher­chen hatte das Unter­neh­men in den letzten Tagen neue Erkennt­nis­se über das aktuel­le Verhal­ten von Julian Reichelt gewon­nen. Diesen Infor­ma­tio­nen ist das Unter­neh­men nachge­gan­gen. Dabei hat der Vorstand erfah­ren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compli­ance-Verfah­rens im Frühjahr 2021 Priva­tes und Beruf­li­ches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahr­heit gesagt hat.»

Inter­nes Verfah­ren im Frühjahr

Im Frühjahr hatte der Konzern das inter­ne Verfah­ren angesto­ßen. Nach Sprin­ger-Angaben standen im Kern der Unter­su­chung die Vorwür­fe des Macht­miss­brauchs im Zusam­men­hang mit einver­nehm­li­chen Bezie­hun­gen zu Mitar­bei­te­rin­nen sowie Drogen­kon­sum am Arbeits­platz. Der Konzern prüfte Vorwür­fe und kam zu dem Ergeb­nis, dass Reichelt seinen Posten behal­ten sollte. Es war eine zweite Chance. Nach einer befris­te­ten Freistel­lung kehrte er in den Job zurück.

Am Montag wurde dann das abrup­te Ende bekannt­ge­macht. Das Ganze kam durch einen Bericht der «New York Times» ins Rollen: Die US-Zeitung berich­te­te am Sonntag in einem langen Artikel über den Medien­kon­zern Axel Sprin­ger auch mit Blick auf die Pläne zur Übernah­me der US-Medien­grup­pe Politico.

Sprin­ger will in seinen digita­len Geschäf­ten stärker wachsen und entschied sich mit dem Polit-Newslet­ter Politi­co für die nach eigenen Angaben größte Unter­neh­mens­über­nah­me der Firmen­ge­schich­te. Dem Deal müssen noch Behör­den zustim­men. Sprin­ger sieht in den USA einen Wachstumsmarkt.

Missstän­de und Macht­miss­brauch im Hause Axel Springer

Die US-Zeitung ging in dem Artikel auch auf die im Frühjahr bekannt­ge­wor­de­nen Vorwür­fe gegen Reichelt ein und brach­te Recher­chen ins Spiel, die das Inves­ti­ga­tiv-Team der Medien­grup­pe Ippen («Frank­fur­ter Rundschau», «Münch­ner Merkur», «TZ») in den vergan­ge­nen Monaten voran­ge­trie­ben hatte. Diese Recher­chen sind bislang nicht veröf­fent­licht worden. Darüber berich­te­te auch das Medien­ma­ga­zin «Überme­di­en».

Eigent­lich hätten sie bereits publi­ziert sein sollen, die Medien­grup­pe Ippen entschied sich auf Einwir­ken des Verle­gers Dirk Ippen zunächst gegen die Veröf­fent­li­chung. Das löste Kritik aus, das Recher­che-Team schrieb einen Brief an Geschäfts­füh­rung und Verleger.

Das Schrei­ben kursier­te im Inter­net. Darin hieß es: «Unsere Recher­che-Ergeb­nis­se deuten auf Missstän­de und Macht­miss­brauch im Hause Axel Sprin­ger und durch den mächtigs­ten Chefre­dak­teur Deutsch­lands hin.» Weiter hieß es: «Beson­ders irritiert hat uns die Tatsa­che, dass für den Stopp der Recher­che keine juris­ti­schen oder redak­tio­nel­len Gründe angeführt wurden.»

Die auch zur Ippen-Medien­grup­pe gehören­de Zeitung «Frank­fur­ter Rundschau» (FR) schrieb in einem Online-Bericht in eigener Sache: «Wir unter­stüt­zen den Protest­brief des Inves­ti­ga­tiv-Teams an Verle­ger Dirk Ippen. Redak­tio­nel­le Unabhän­gig­keit ist die unabding­ba­re Grund­la­ge für Quali­täts­jour­na­lis­mus, Vertrau­en ist ihr wertvolls­tes Gut. Dieses darf niemals verletzt werden.»

Bislang blieb unklar, ob die Recher­chen von Ippen-Inves­ti­ga­tiv mögli­cher­wei­se zu einem späte­ren Zeitpunkt veröf­fent­licht werden. Die Medien­grup­pe äußer­te sich auf Nachfra­ge der Deutschen Presse-Agentur dazu nicht. Als Begrün­dung für den Stopp der Veröf­fent­li­chung hieß es: «Als Medien­grup­pe, die im direk­ten Wettbe­werb mit “Bild” steht, müssen wir sehr genau darauf achten, dass nicht der Eindruck entsteht, wir wollten einem Wettbe­wer­ber wirtschaft­lich schaden.»

Das Medien­haus, das in München die Boule­vard­zei­tung «TZ» publi­ziert, ergänz­te: «Daher ist die Entschei­dung gefal­len, jeden Eindruck zu vermei­den, wir könnten Teil eines Versuchs sein, einen solchen wirtschaft­li­chen Schaden anzurich­ten. Damit war das Thema einer Erstver­öf­fent­li­chung dieser Recher­chen vom Tisch.»

Nach Angaben des Ippen-Medien­hau­ses hatte es keine Beein­flus­sung durch Sprin­ger bei der Entschei­dung gegeben, auf eine Veröf­fent­li­chung zu verzich­ten. «Der Austausch mit Sprin­ger beschränk­te sich auf den in diesen Fällen üblichen Schrift­wech­sel der jewei­li­gen Anwälte.»

Ein Sprin­ger-Sprecher teilte auf Anfra­ge mit: «Mit Wissen von Axel Sprin­ger gab es keinen Versuch, Veröf­fent­li­chun­gen im Zusam­men­hang mit der Compli­ance-Unter­su­chung zu verhin­dern. Davon unbenom­men sind recht­li­che Hinwei­se, die der Wahrung berech­tig­ter Inter­es­sen des Unter­neh­mens und seiner Mitar­bei­ter dienen.»

Reichelt seit 2002 bei Axel Springer

Reichelt arbei­te­te seit 2002 für den Medien­kon­zern. Der Journa­list war Vorsit­zen­der der «Bild»-Chefredaktionen und trug die überge­ord­ne­te redak­tio­nel­le Verant­wor­tung der Bild-Marke mit Deutsch­lands größter Boule­vard-Tages­zei­tung mit einer Aufla­ge von rund 1,2 Millio­nen Exempla­ren (mit Berli­ner Boule­vard­zei­tung «B.Z»). Der 41-Jähri­ge war zudem Sprecher der Geschäfts­füh­rung für die Bild-Marke. Vor allem mit seiner Arbeit als Repor­ter in Kriegs­ge­bie­ten wurde Reichelt vielen bekannt.

Sprin­ger-Chef Mathi­as Döpfner sagte am Montag: «Julian Reichelt hat “Bild” journa­lis­tisch hervor­ra­gend entwi­ckelt und mit BILD LIVE die Marke zukunfts­fä­hig gemacht. Wir hätten den mit der Redak­ti­on und dem Verlag einge­schla­ge­nen Weg der kultu­rel­len Erneue­rung bei BILD gemein­sam mit Julian Reichelt gerne fortge­setzt. Dies ist nun nicht mehr möglich.»

Neben Boie auf der Toppo­si­ti­on bei «Bild» bleibt Alexan­dra Würzbach Chefre­dak­teu­rin «Bild am Sonntag» und verant­wor­tet das Perso­nal- und Redak­ti­ons­ma­nage­ment. Diesen Bereich hatte sie bereits bei Reichelts Rückkehr im Frühjahr übernom­men. Claus Strunz ist als Chefre­dak­teur für das Bewegt­bild­an­ge­bot verantwortlich.

Sprin­ger beschäf­tigt rund 16.000 Mitar­bei­ter weltweit. Neben den journa­lis­ti­schen Flagg­schif­fen «Bild» und «Welt» ist der Konzern in digita­len Geschäf­ten wie Newslet­tern aktiv. Auch Rubri­ken­por­ta­le sind ein wichti­ges Stand­bein. Außer­dem inves­tiert Sprin­ger auch in andere Unter­neh­men. 2019 ging der Medien­kon­zern in Berlin eine Partner­schaft mit dem US-Finanz­in­ves­tor KKR ein und zog sich dazu auch 2020 von der Börse zurück. Das Ziel: Schnel­ler in den digita­len Geschäf­ten wachsen.

In den vergan­ge­nen Monaten stemm­te Sprin­ger ein Mammut-Projekt: Seine immer noch aufla­gen­stärks­te Zeitung «Bild» bekam auch einen gleich­na­mi­gen TV-Sender. Das frei empfang­ba­re TV-Programm starte­te im August. Sprin­ger will Millio­nen in den Ausbau seines Video­an­ge­bots inves­tie­ren. Im TV wird in Deutsch­land nach wie vor viel Geld mit Werbung verdient.

Von Anna Ringle, dpa