KÖLN (dpa) — Karl Lauter­bach war der große Warner der Corona-Pande­mie. Als Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter trägt er nun aber weitge­hen­de Locke­run­gen mit. In seinem Stamm­ca­fé erläu­tert er seine Sicht der Dinge.

So entspannt hat für Karl Lauter­bach schon lange kein Tag mehr begon­nen. In einem Café in Kölns Belgi­schem Viertel bestellt er sich einen Kaffee und ein kleines vegeta­ri­sches Frühstück.

Der 59-Jähri­ge wohnt ganz in der Nähe und ist hier Stamm­gast. Wenn er abends an einem der kleinen Tische Platz nimmt, tun alle so, als würden sie ihn gar nicht bemer­ken. Dabei ist die hagere Gestalt mit den zerzaus­ten Haaren natür­lich unverkennbar.

«Er wird hier komplett in Ruhe gelas­sen», erzählt Wirtin Pauli­na. In letzter Zeit kommt er aller­dings lang nicht mehr so regel­mä­ßig wie früher. Auch die Tisch­ten­nis­spie­le mit seinem Freund Günter Wallraff in zehn Fahrrad­mi­nu­ten Entfer­nung haben mittler­wei­le Selten­heits­wert, wenngleich sie immer noch stattfinden.

Wechsel nach Berlin

Seit seiner Verei­di­gung zum Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter im vergan­ge­nen Dezem­ber lebt Lauter­bach ganz überwie­gend in Berlin, in einer gemein­sa­men WG mit einer seiner Töchter. Er hat sich sehr gefreut, als damals der Anruf von Olaf Scholz kam, denn er wollte den Job. Er wollte mitge­stal­ten, nicht nur das Corona-Manage­ment, sondern auch die Reform des Gesund­heits­we­sens. Jetzt, vier Monate später, gesteht er der Deutschen Presse-Agentur: «Die Aufga­be ist viel härter, als ich mir das vorge­stellt hatte. Zeitlich, aber auch was die Komple­xi­tät der Anfor­de­run­gen angeht. Ich arbei­te von morgens früh bis spät in die Nacht hinein, und dennoch würde ich mir wünschen, dass der Tag mehr Stunden hat. Es ist eine Belas­tung, wie ich sie mir in dem Umfang nicht vorge­stellt habe.»

Kriti­ker halten ihm vor, er habe sich im Amt binnen weniger Monate vom Mahner und Warner zum Locke­rer gewan­delt — schließ­lich sind am Sonntag die meisten Schutz­be­stim­mun­gen wegge­fal­len. Wenn man Lauter­bach darauf anspricht, ist sein Unbeha­gen gerade­zu greif­bar. Verstel­len kann er sich nicht. «Ich kenne den politi­schen Betrieb, ich bin seit 17 Jahren Berufs­po­li­ti­ker», sagt er dazu. «Und deshalb weiß ich, dass zum Wesen der Politik der Kompro­miss gehört.»

Lauter­bach wollte die allge­mei­ne Masken­pflicht beibe­hal­ten, doch Bundes­jus­tiz­mi­nis­ter Marco Busch­mann (FDP) hielt dies für recht­lich nicht mehr begründ­bar, weil eine natio­na­le Überlas­tung des Gesund­heits­sys­tems nicht mehr zu befürch­ten sei. Und er setzte sich durch. Lauter­bach konnte ledig­lich errei­chen, dass den Ländern eine Möglich­keit für regio­na­le Hotspot-Regelun­gen eröff­net wurde.

Weniger gefähr­li­che Variante

Kann er verste­hen, dass viele ihm jetzt vorwer­fen, erst habe er sie jeden Tag zur Diszi­plin ermahnt und jetzt lasse er die Dinge einfach laufen? «Damit muss ich umgehen», sagt er nachdenk­lich in seinem typisch rheini­schen Singsang, der von Parodis­ten so leicht imitiert werden kann. «Aber das hat eben den Hinter­grund, dass wir jetzt eine weniger gefähr­li­che Varian­te haben. Und dafür bin ich dankbar. Mir ist doch lieber, dass ich Locke­run­gen mittra­gen kann, weil sich die Lage verbes­sert hat, als dass ich drako­ni­sche Maßnah­men beschlie­ßen muss.» Dann fügt er aller­dings noch hinzu: «Ich halte übrigens Omikron nicht für so harmlos wie viele andere. Es sterben derzeit zwischen 200 und 300 Menschen pro Tag, das ist weiter­hin jeden Tag ein Flugzeug­ab­sturz. Ich finde das beklemmend.»

Immer­hin: Am Donners­tag könnte der Bundes­tag eine von Lauter­bach ersehn­te allge­mei­ne Impfpflicht beschlie­ßen. «Das wird aus meiner Sicht ein Segen sein, denn das wird dann die Ausgangs­la­ge im kommen­den Herbst, wenn sich die Lage wieder verschär­fen könnte, grund­sätz­lich verbes­sern.» Aller­dings könnte es darauf hinaus­lau­fen, dass die Impfpflicht erst ab 50 Jahren gilt — und nicht ab 18, wie Lauter­bach will.

Tempo der Verän­de­run­gen stärken

Kurz vor seinem Amtsan­tritt hat der Profes­sor — der auf Twitter fast eine Milli­on Follower hat — noch ein Buch abgeschlos­sen, für das er lange recher­chiert hat. Es heißt «Bevor es zu spät ist — Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissen­schaft Schritt hält». Ein Plädoy­er dafür, insbe­son­de­re beim Klima­schutz das Tempo der Verän­de­run­gen massiv zu verstär­ken. Gewid­met hat er es seinen Töchtern Luzie (15) und Rosa-Lena (27), zwei seiner insge­samt fünf Kinder. «Sie stehen für die Genera­ti­on, die mit den Schäden des Klima­wan­dels in einer Art wird leben müssen, wie wir es uns gar nicht vorstel­len können.»

Jetzt ist das Buch erschie­nen — aber geredet wird nicht übers Klima, sondern fast nur noch über den Ukrai­ne-Krieg. Zurecht natür­lich, wie Lauter­bach betont: «Ich hatte mit einem solchen Krieg nicht gerech­net. Hätten Sie mich vor einem halben Jahr gefragt, hätte ich das für undenk­bar gehal­ten. Es ist ein Rückfall in eine Zeit, die ich für überwun­den gehal­ten habe. Hier werden Kinder geopfert, Unschul­di­ge barba­risch getötet.»

Lauter­bach glaubt jedoch, dass der furcht­ba­re Krieg zumin­dest in einer Hinsicht etwas Gutes bewir­ken kann: «Plötz­lich ist allen klar, wie schnell wir von Gas und Öl wegkom­men müssen. Viel schnel­ler als wir noch vor kurzem gedacht haben.» Und das ist dann wieder die Botschaft seines Buches: «Die Energie­wen­de ist die wichtigs­te politi­sche Langzeit­ent­schei­dung — neben der Wieder­her­stel­lung und Siche­rung des Friedens und der Vorbeu­gung vor weite­ren Pandemien.»

«Chroni­scher Außenseiter»

In seinem Buch verrät Lauter­bach auch einige persön­li­che Details: Wie er in einer katho­li­schen Arbei­ter­fa­mi­lie in Nieder­zier im Kreis Düren aufwuchs, auf der Grund­schu­le gute Noten hatte, aber dennoch von den Lehrern auf eine Haupt­schu­le geschickt wurde. Sein Freund, der Schrift­stel­ler Benja­min von Stuck­rad-Barre, beschrieb ihn kürzlich in einer Fernseh­do­ku von Markus Felden­kir­chen als chroni­schen Außen­sei­ter, der durch die Pande­mie ins Zentrum des Gesche­hens katapul­tiert worden sei: «Das ist ja wie so’n ameri­ka­ni­scher Spiel­film, wo irgend­je­mand durch einen Zufall, ein Imbiss­be­trei­ber, plötz­lich ameri­ka­ni­scher Präsi­dent wird.»

Lauter­bachs Vater ist vor einigen Jahren gestor­ben, aber seine Mutter wohnt immer noch in dem kleinen Ort westlich von Köln. «Meine Schwes­ter und ich haben sie während der Pande­mie immer wieder besucht und dann bei Wind und Wetter, bei eisiger Kälte auf der Terras­se geses­sen, als sie noch nicht geimpft war», erzählt er. Die 87-Jähri­ge verfolgt seine immer noch zahlrei­chen Talkshow-Auftrit­te mit größter Aufmerk­sam­keit. «Sie ist sehr kritisch. Aber damit muss ich klarkommen.»

Das Handy klingelt, der nächs­te Termin ruft. Zum Abschied gibt es eine herzli­che Umarmung für die Wirtin, die er seit langem kennt und mit der er sich duzt. Drei Perso­nen­schüt­zer folgen ihm, als er raus auf die Straße geht. Seine Popula­ri­täts­wer­te sind zwar immer noch hoch, aber dieje­ni­gen, die ihn ableh­nen, tun das häufig mit beson­de­rer Inbrunst. Reizfi­gur Lauter­bach. Jetzt aller­dings regnet es, und niemand achtet auf ihn. Nur ein älterer, bärti­ger Mann, der in der zweiten Etage am Fenster sitzt, hat ihn erkannt. Er lacht und macht dabei eine wegwer­fen­de Handbe­we­gung. Sie kann alles Mögli­che bedeu­ten. Von «Der schon wieder» bis «Lasst ihn doch machen».

Von Chris­toph Dries­sen, dpa