KIEW (dpa) — Rund 2,5 Millio­nen Menschen leben in Kiew. Im ersten Sommer seit dem Kriegs­be­ginn pendelt die Haupt­stadt wie das ganze Land zwischen Gegen­sät­zen. In den Voror­ten ergibt sich derweil ein anderes Bild.

Wer dieser Tage durch Kiew geht, kann schnell verges­sen, dass Krieg herrscht. Sind die Kontrol­len mit Solda­ten, Panzer­sper­ren und Sandsack­ver­schlä­gen an den Stadt­gren­zen erst mal passiert, präsen­tiert sich die ukrai­ni­sche Haupt­stadt fast wie vor dem russi­schen Angriffskrieg.

Menschen flanie­ren durch die Straßen und essen Eis, in Cafés treffen sich Jung und Alt, in Parks spielen Kinder neben pickni­cken­den Eltern. Es scheint ein wenig so, als würden viele der rund 2,5 Millio­nen Kiewer die seit dem 24. Febru­ar andau­ern­de Invasi­on im städti­schen Alltag am liebs­ten ignorie­ren — selbst wenn wieder einmal die Sirenen stunden­lang vor drohen­den Luftan­grif­fen warnen. Eine Spuren­su­che in einer Stadt der Gegensätze.

«Was sollen wir machen, uns wegen Putin weinend im Keller verschan­zen? Dürfen wir nicht mehr lachen?», kontert eine junge Ukrai­ne­rin auf die für sie offen­kun­dig überra­schen­de Frage nach ihrer Angst im Alltag. Die Frau, die nach eigenen Angaben in Kiew studiert, wartet in einer Einkaufs­stra­ße unweit des Olympia­sta­di­ons auf ihre Freun­de und gibt sich betont gelas­sen. Spätes­tens wenn die Ukrai­ner aus Angst nicht mehr vor die Tür gingen, hätten die Russen gewon­nen. «Sie greifen unsere Freiheit an, also zeigen wir ihnen, dass sie zwar das Land angrei­fen können, aber niemals unseren Freiheitsdrang.»

Angesichts solcher Worte wundert es nicht, dass der Alltag in Kiew nur dann und dort ausbremst wird, wenn etwa die Sirenen vor Raketen warnen. Tierpark, Museen, Theater und Kinos haben geöff­net — wer Ablen­kung und Zerstreu­ung will, muss nicht lange suchen.

Und noch eine Frage drängt sich angesichts der Debat­te um den jüngs­ten Besuch deutscher Politi­ker in Kiew auf. Es geht um ein Bild von Innen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser, Arbeits­mi­nis­ter Huber­tus Heil (beide SPD), Kiews Bürger­meis­ter Vitali Klitsch­ko und der deutschen Botschaf­te­rin Anka Feldhusen. Auf dem Foto, aufge­nom­men am Montag auf dem Balkon der Residenz der Botschaf­te­rin, halten die vier Sektglä­ser in der Hand und lachen in die Kameras.

Gegen­sätz­lich­keit ist Teil des Alltags in Kiew

In Deutsch­land formier­te sich sofort eine Empörungs­wel­le, von «Befrem­den» ist die Rede, bei Twitter überschla­gen sich die Kriti­ker mit ihren Inter­pre­ta­tio­nen. Zweifels­oh­ne wirkt das Bild aus hiesi­ger Sicht deplat­ziert, in Kiew und Umgebung selbst gehört die Gegen­sätz­lich­keit aber — auch das gehört zur Wahrheit — genau­so in den Alltag wie die Besuche westli­cher Politiker.

Etwa auf dem wenige Kilome­ter entfern­ten Michaelplatz, wo sich die Gegen­sätz­lich­keit in Form von verros­te­ten Panzern und anderen Kriegs­ge­rä­ten noch plasti­scher zeigt. Hier stellt die Regie­rung zerstör­te russi­sche Waffen zur Schau, im Hinter­grund glänzt die golde­ne Kuppel des Micha­els­klos­ters, dazwi­schen flanie­ren Famili­en mit kleinen Kindern in bunten T‑Shirts und Sanda­len. Die unwirk­li­che Szene­rie ist aber nicht nur ein belieb­tes Fotomo­tiv — die Trophä­en­schau dürfte auch zum Ziel haben, der zuneh­mend kriegs­mü­den Bevöl­ke­rung Zuver­sicht und Durch­hal­te­ver­mö­gen zu vermitteln.

Und dies aus berech­tig­ten Gründen: Beim Gang durch die Stadt sind längst nicht nur kämpfe­ri­sche Aussa­gen zu hören. Es gibt auch andere Töne, zweifeln­de, die den Wunsch nach Frieden und einer Zukunfts­per­spek­ti­ve offen­le­gen: «Wie lange soll der Krieg denn dauern? Was für eine Perspek­ti­ve haben wir denn gegen die Russen?», sagt ein Mann mittle­ren Alters. Dass der Westen sich künftig derart einbrin­gen werde, damit die Russen im Osten und Süden der Ukrai­ne wieder zurück­ge­drängt werden könnten, sei leider nicht absehbar.

Dabei reagiert die Stadt­be­völ­ke­rung bei Luftalarm längst teils sehr abgestumpft. Wenn die Sirenen erklin­gen, wird es mancher­orts zwar sehr laut, auch schlie­ßen Banken und einzel­ne Geschäf­te, das norma­le Leben geht aber weiter. Filmvor­füh­run­gen werden erst abgebro­chen, wenn der Alarm länger als 30 Minuten dauert. Nicht einmal die U‑Bahn als Haupt­bom­ben­schutz hat durch­gän­gig geöff­net. Wer in einer Stati­on in der Nacht Schutz suchen will, muss bei einem Dienst­ha­ben­den anrufen.

Dass die Abstump­fung aber auch eine Gefahr darstellt, zeigt sich leider auch immer wieder. Erst am Donners­tag schla­gen nördlich der Stadt Raketen ein — es gibt Verletz­te. Ende Juni machen Schlag­zei­len die Runde, dass ein neunstö­cki­ges Wohnhaus und das Gelän­de eines Kinder­gar­tens von Raketen getrof­fen wurden.

Ohnehin — auch das sieht man bei der Fahrt durch Kiew — ist die Situa­ti­on in den Voror­ten eine gänzlich andere. So sind etwa in Irpin, Hosto­mel und Butscha im Nordwes­ten die Spuren der Zerstö­rung allge­gen­wär­tig. An den Parkplät­zen der Ausfall­stra­ßen stapeln sich Autowracks, meist ausge­brannt und mit Einschuss­lö­chern, an Häusern fehlen Fenster­schei­ben, die Wände schwarz vor Ruß, es riecht noch immer nach verbrann­tem Gummi. Ein Großteil der Menschen, denen die Flucht gelun­gen ist, können auch Monate nach dem Abzug der Russen nicht zurück, weil die Häuser meist unbewohn­bar sind.

Doch auch hier sucht sich das norma­le Leben wieder seinen Weg — Kinder spielen auf den Resten von Spiel­plät­zen, Frauen schie­ben Kinder­wa­gen an Sandsä­cken und Straßen­sper­ren vorbei. Anders als in Kiew selbst ist die Stimmung schon angesichts der Zerstö­rung eine ganz andere. Die Menschen wirken verängs­tigt und wollen sich gegen­über Journa­lis­ten nicht wirklich äußern.

Von Marco Hadem und Andre­as Stein, dpa