BERLIN (dpa) — In der Werbung leuch­ten­de Kinder­au­gen beim Blick unter den Weihnachts­baum, in den Nachrich­ten volle Inten­siv­sta­tio­nen — Deutsch­land geht in eine weite­re Advents­zeit in der Pandemie.

Bei der Senio­ren-Hotline des Vereins Silber­netz häufen sich derzeit die Anrufe einsa­mer Menschen. Viele machen sich Gedan­ken, wie Weihnach­ten wird, erzählt Gründe­rin Elke Schilling.

«Sie wollen nicht noch ein Weihnach­ten allein feiern, haben noch die Erinne­rung an letztes Weihnach­ten, an dem sie teils ihre Familie nicht sehen konnten, ihre Enkel.» Anders als im letzten Jahr ist Deutsch­land nicht in einem Winter-Lockdown, mittler­wei­le sind viele Menschen geimpft — aber trotz­dem errei­chen die Corona-Zahlen Rekord­wer­te. Zum Start der Advents­zeit ist unklar, wie das Famili­en­fest wird. Gibt es Gänse­schmaus mit der erwei­ter­ten Familie oder einsa­me Spaziergänge?

Chris­ti­na Jochim von der Deutschen Psycho­the­ra­peu­ten­ver­ei­ni­gung beobach­tet, dass sich die Stimmung gewan­delt hat: «Letztes Jahr waren das vor allem Gefüh­le von Verun­si­che­rung, Angst, Überra­schung und Traurig­keit, dass eine liebge­won­ne­ne Tradi­ti­on wegfällt. Jetzt – zu Corona-Weihnach­ten 2.0 – sind weniger Ängste und viel mehr Ärger und Frustra­ti­on im Spiel. Wir sind ein Stück weit pande­mie­er­fah­ren, aber nicht pande­mie­ver­laufs­er­fah­ren, also was es wirklich bedeu­tet, dieses Auf und Ab.» Viele hätten trotz der Warnun­gen aus der Wissen­schaft durch die Locke­rungs­si­gna­le aus der Politik im Sommer die Hoffnung gehabt, dass Schutz­maß­nah­men nicht mehr nötig seien. Jetzt sei die Enttäu­schung umso größer.

Ritua­le stiften Stabilität

Das ist für die Psycho­the­ra­peu­tin nicht überra­schend: «Weihnach­ten ist ein Fest, das eine Tradi­ti­on ist, und Tradi­tio­nen und Ritua­le dienen aus psycho­lo­gi­scher Sicht dazu, gemein­sa­me Identi­tät zu stiften, Verbin­dung zu stiften, Orien­tie­rung zu geben. Diese wieder­keh­ren­den Ereig­nis­se sind auch Stabi­li­tät, Struk­tur, Anker­punk­te im Jahr.» Ritual­for­sche­rin Katrin Bauer nennt noch einen Grund, weshalb Ritua­le wichtig sind: «Ritua­le leiten uns und geben uns Handlungs­si­cher­heit. Wir wissen automa­tisch, was wir zu tun haben. Fällt das weg, entsteht eine Lücke.»

Die gute Nachricht: Menschen sind erfin­de­risch. In der Corona-Zeit gibt es jetzt mehr Aufmerk­sam­keit für Ritua­le, die man gut zu Hause machen kann, hat Bauer vom LVR-Insti­tut für Landes­kun­de und Regio­nal­ge­schich­te beobach­tet — zum Beispiel einen Advents­kranz selbst zu binden oder für die Kinder eine Wichtel­tür aufzu­stel­len. Statt mit den Kolle­gen auf den Weihnachts­markt zu gehen oder im Restau­rant zu feiern, treffen wir uns digital. Manche dieser neuen Ritua­le werden die Pande­mie überdau­ern, vermu­tet sie — auch wenn bei virtu­el­len Feiern das emotio­na­le Erleben fehlt, die Gerüche, das Zusammenstehen.

«Wir suchen uns Ritua­le, die in unser Leben passen», sagt Bauer. Trotz­dem: «Gerade Advents- und Weihnachts­ri­tua­le werden sehr stark inner­halb der Familie weiter­ge­ge­ben, da gibt es oft Grund­ge­rüs­te – zum Beispiel gibt es bei uns an Heilig­abend immer Würst­chen und Kartof­fel­sa­lat.» Beson­ders alten Menschen sind diese Tradi­tio­nen sehr wichtig — und für sie ist die Vorstel­lung schlimm, Weihnach­ten nicht so feiern zu können wie sonst, sagt Schil­ling vom Verein Silbernetz.

Zoff unter der Tanne

Gleich­zei­tig gibt es oft auch Streit unter dem Weihnachts­baum, wenn man plötz­lich Zeit mit der Familie hat. «Es gibt auch die, die fast ein bisschen froh oder zumin­dest entlas­tet sind, dass sie das an Weihnach­ten dieses Jahr anders machen dürfen, ohne sich recht­fer­ti­gen zu müssen», sagt Psycho­the­ra­peu­tin Jochim.

Im vergan­ge­nen Jahr wurde mantra­ar­tig wieder­holt, wenn der Lockdown helfe, könne es ein norma­les Weihnach­ten geben. Es kam bekannt­lich anders. Nun heißt es wieder abwar­ten und abwägen — welches Risiko hat man selbst, haben die Verwand­ten und anderen Menschen in der Umgebung, sich anzuste­cken und heftig zu erkran­ken? Ist es vernünf­tig, sich zu treffen? Längst sind Klini­ken in manchen Regio­nen überlas­tet. Und was wird Ende Dezem­ber überhaupt erlaubt sein? Eine Progno­se, wie Weihnach­ten wird, wollte auch der — noch — geschäfts­füh­ren­de Gesund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn Mitte Novem­ber nicht geben. «Es liegt an jedem von uns», sagte er.

Wie aber in den nächs­ten Wochen umgehen mit der Unsicher­heit? Jochim rät, zu schau­en, worauf man Einfluss hat und sich da Perspek­ti­ven zu schaf­fen. «Wo, mit wem, in welchem Rahmen wäre Weihnach­ten möglich, möglichst konkret. Und gleich­zei­tig ist es wichtig, alle Gefüh­le anzuer­ken­nen, sich auch mal ordent­lich ärgern zu können. Und noch wichti­ger ist es, damit wieder aufhö­ren zu können. Auf die Dauer ist Ärger ein zusätz­li­cher Stres­sor.» Manche der Anrufen­den bei der Senio­ren-Hotline arbei­ten an einem Plan B — und wollen sich am liebs­ten schon für Heilig­abend zum Telefo­nie­ren verabreden.

Von Ann-Kristin Wenzel, dpa