Noch ist der Notstand nicht da — mit einschnei­den­den Maßnah­men aber wollen Bund und Länder eine weite­re unkon­trol­lier­te Ausbrei­tung des Corona­vi­rus mit mögli­chen unabseh­ba­ren Folgen verhin­dern. Für Bürger und Firmen im ganzen Land bedeu­tet das: Es wird ein harter Monat.

Vor zwei Wochen, als die Minis­ter­prä­si­den­ten mit Kanzle­rin Angela Merkel (CDU) in Berlin zusam­men­sa­ßen, da war es noch ein mühsa­mes Ringen um eine letzt­lich überschau­ba­re Verschär­fung der gemein­sa­men Anti-Corona-Maßnah­men. Merkel machte aus ihrer Unzufrie­den­heit damals auch keinen Hehl. «Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwen­den», sagte sie in der inter­nen Runde. «Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.»

DIE ZAHLEN GEHEN DURCH DIE DECKE

Zwei Wochen später: Die Zahl der bundes­wei­ten Neuin­fek­tio­nen hat sich inzwi­schen verdrei­facht, von 5000 auf rund 15.000 am Tag. Das ist der Höchst­wert seit Beginn der Pande­mie. Die Deutsch­land-Karte des Robert Koch-Insti­tuts hat sich von Tag zu Tag immer dunkel­ro­ter gefärbt. Immer mehr Landkrei­se überschrei­ten die Schwel­len von 50, 100 oder gar 200 Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­ner binnen sieben Tagen. Zwei Landkrei­se in Bayern mussten deshalb zuletzt komplett dicht machen und auch Schulen und Kitas vorüber­ge­hend schlie­ßen. Die Zahlen steigen aber in allen Bundes­län­dern immer weiter an. Und in vielen europäi­schen Nachbar­län­dern sind die Werte längst viel dramatischer.

KONSENS IST SCHNELL GEFUNDEN

Wohl deshalb geht an diesem Mittwoch­nach­mit­tag nun plötz­lich alles überra­schend schnell: Fast schon im Minuten­rhyth­mus einigen sich Bund und Länder auf strik­te Kontakt­be­schränk­lun­gen, die Schlie­ßung von Restau­rants, Bars, Kinos, Theatern, Schwimm­bä­dern und vielen anderen Freizeit­ein­rich­tun­gen — kurz: auf die drastischs­ten Einschrän­kun­gen des öffent­li­chen Lebens in ganz Deutsch­land seit dem ersten Corona-Lockdown im Frühjahr. Zentra­ler Unter­schied: Schulen, Kinder­gär­ten und der Einzel­han­del sollen diesmal offen bleiben.

Nach gut vierstün­di­gen Beratun­gen ist das Paket beschlos­se­ne Sache. Mit ernsten Mienen treten die Kanzle­rin, Berlins Regie­ren­der Bürger­meis­ter Micha­el Müller (SPD) und Bayerns Minis­ter­prä­si­dent Markus Söder (CSU) vor die Presse und verkün­den die neuen, harten Einschnitte.

EINE NATIONALE KRAFTANSTRENGUNG

Es sei ein schwe­rer Tag für politi­sche Entschei­dungs­trä­ger, sagt Merkel. «Ich will das ausdrück­lich sagen, weil wir wissen, was wir den Menschen zumuten.» Merkel, die Natur­wis­sen­schaft­le­rin, listet auf, wie schnell sich die Zahl der Corona-Patien­ten auf Inten­siv­sta­tio­nen und die Zahl der beatme­ten Patien­ten zuletzt verdop­pelt habe. Wenn dies so bliebe, würde das Gesund­heits­sys­tem binnen weniger Wochen an die Grenze der Leistungs­fä­hig­keit kommen, warnt die Kanzle­rin. «Wir müssen handeln, und zwar jetzt», mahnt sie. Man müsse eine natio­na­le Gesund­heits­not­la­ge vermei­den. «Die Kurve muss wieder abflachen.»

Merkel fordert eine befris­te­te, «natio­na­le Kraft­an­stren­gung». Die Maßnah­men sollen ab 2. Novem­ber gelten, und zwar zunächst bis Monats­en­de. «Wir verord­nen eine Vier-Wochen-Thera­pie», sagt Söder. Und Müller, der freimü­tig einräumt, dass ihm der Beschluss nicht leicht gefal­len sei, betont: «Es stimmt, dass jeder Tag zählt.»

KURSWECHSEL HIN ZU BUNDESWEITEN MASSNAHMEN

Es ist ein kräfti­ger Kurswech­sel, den Bund und Länder nun also vollzie­hen: Vor zwei Wochen noch hatten Merkel und die versam­mel­ten Minis­ter­prä­si­den­ten ungefähr doppelt so lange gebraucht, um sich auf schär­fe­re Gegen­maß­nah­men nur für Corona-Hotspots zu verständigen.

Nun ist bei allen Betei­lig­ten die Erkennt­nis gereift, dass all dies nicht genug ist. «Das bisher Getane reicht nicht — wir müssen mehr tun», sagt Söder. Deshalb nicht mehr nur regio­na­le Gegen­maß­nah­men, nicht nur landes­wei­te Einschrän­kun­gen, sondern bundes­wei­te. Es ist eine Notbrem­se, an der nun alle gemein­sam ziehen — in der Hoffnung, dass der ungebrems­te Anstieg der Neuin­fek­tio­nen gestoppt wird.

ALLE RICHTEN SICH NACH DER KRISENKANZLERIN

Und: Merkel ist wieder die unbestrit­te­ne Krisen-Kanzle­rin. Sie gibt die Richtung vor, führt Regie, sie hat deshalb in der Presse­kon­fe­renz auch eindeu­tig den größten Redean­teil. Manche Bundes­län­der, so ist zu hören, haben einer­seits einge­se­hen, dass man nun sofort und schnell und umfas­send handeln müsse. Anderer­seits sind sie froh, dass es eine bundes­ein­heit­li­che Linie gibt, in die sich alle einrei­hen können.

NEUER SCHWERER SCHLAG FÜR DIE WIRTSCHAFT

Fakt ist: Die Corona-Notbrem­se hat massi­ve Auswir­kun­gen für viele Unter­neh­men und Beschäf­tig­te. Das ist ein schwe­rer Schlag für die Wirtschaft, die eindring­lich vor einem zweiten Lockdown gewarnt hatte und eine Insol­venz­wel­le fürch­tet. Im Frühjahr hatte das Herun­ter­fah­ren des öffent­li­chen und wirtschaft­li­chen Lebens zu einem beispiel­lo­sen Einbruch der Wirtschafts­leis­tung geführt. Im Sommer war die Wirtschaft insge­samt wieder auf Erholungs­kurs, wobei die Geschäf­te in einzel­nen Branchen nach wie vor nicht in Gang kamen.

Vor allem die Gastro­no­mie übte zuletzt harsche Kritik — und verwies auf Hygie­ne­kon­zep­te in Restau­rants und Kneipen. Merkel aber argumen­tiert nun, diese Konzep­te entfal­te­ten derzeit nicht mehr die Wirkung, die gebraucht werde, um die rasan­te Ausbrei­tung des Virus zu stoppen. Zudem: Bei 75 Prozent der aktuel­len Infek­tio­nen wisse man nicht, woher sie kommen, wo die Anste­ckung erfolg­te, betont Merkel.

Über allem steht nun das Ziel, die Zahl von Kontak­ten zu verrin­gern. Deswe­gen fordern Bund und Länder die Unter­neh­men auch «eindring­lich» auf, Heimar­beit zu ermög­li­chen — wo immer dies umsetz­bar ist.

NEUE HILFEN EINE ART UNTERNEHMERLOHN

Um die Folgen des Novem­ber-Teil-Lockdowns abzufe­dern, entschließt sich die Bundes­re­gie­rung zu neuen, «außer­or­dent­li­chen» Milli­ar­den­hil­fen. Schon bisher waren Hilfs­pro­gram­me in großem Stil beschlos­sen worden: Kredi­te über die Staats­bank KfW oder Überbrü­ckungs­hil­fen. Dafür hatte der Bund immense Schul­den gemacht.

Nun sollen Firmen, die wegen der Schlie­ßun­gen im Novem­ber hohe Umsatz­aus­fäl­le haben, massiv unter­stützt werden. Die Finanz­hil­fen sollen ein Volumen von bis zu 10 Milli­ar­den Euro haben. Das Geld könnte aus Töpfen kommen, die bisher nicht ausge­schöpft wurden. Auch Verei­nen und Solo-Selbstän­di­gen, also etwa Künst­lern, soll gehol­fen werden. Faktisch bedeu­ten die Novem­ber-Hilfen, über die in der Bundes­re­gie­rung dem Verneh­men nach tagelang gerun­gen wurde, die Einfüh­rung eines Unternehmerlohns.

Doch trotz der neuen Hilfen: Der Novem­ber-Lockdown dürfte große Folgen haben. Die Erholung der Wirtschaft könnte empfind­lich gestoppt werden. In vielen Betrie­ben und bei Beschäf­tig­ten könnte sich die Unsicher­heit verstär­ken, wie es weiter­ge­hen soll — wenn die neuen Maßnah­men nicht wirken.

MERKEL HOFFT AUF SPIELRAUM

Hätte man nicht vor zwei Wochen konse­quen­ter handeln müssen, wird die Kanzle­rin am Abend gefragt. Theore­tisch ja, sagt Merkel. Aber: Vor zwei Wochen sei die «politi­sche Akzep­tanz» noch nicht so da gewesen. «Wir sind aber auf die Bereit­schaft der Bürge­rin­nen und Bürger angewie­sen», beton­te sie. Sie hoffe nun, dass man den richti­gen Punkt getrof­fen habe, «an dem sozusa­gen noch ein Stück Spiel­raum ist».