Mit einem Brand­brief an Minis­ter­prä­si­dent Winfried Kretsch­mann (Grüne) hat ein breites Bündnis aus Kommu­nen und Wirtschaft den dringen­den Abbau von bürokra­ti­schen Hürden und staat­li­chen Vorga­ben gefor­dert. Um die wirtschaft­li­che Stärke des Landes trotz vieler Krisen zu erhal­ten, sei ein «grund­sätz­li­cher Reform­pro­zess» notwen­dig, schrei­ben die Chefs der Kommu­nal- und Wirtschafts­ver­bän­de in Baden-Württem­berg sowie die Präsi­den­ten des Sparkas­sen- und Genos­sen­schafts­ver­bands. Sie fordern Kretsch­mann auf, einen «Zukunfts­kon­vent» einzu­be­ru­fen, «um einen Wandel hin zu einem moder­nen Zukunfts­staat mit verläss­li­chen und umsetz­ba­ren Zusagen» anzustoßen.

Kretsch­mann sieht hier auch Kommu­nen selbst in der Pflicht

Im Gegen­satz zur CDU reagier­te der Grünen-Regie­rungs­chef kühl auf das Schrei­ben. Zwar müsse man «bürokra­ti­sche Hemmnis­se» abbau­en, aber für vieles sei das Land der falsche Ansprech­part­ner. Kretsch­mann sieht auch die Kommu­nen selbst in der Pflicht, Bremsen zu lösen, etwa bei Geneh­mi­gung von Windrä­dern. Ansons­ten hänge viel an Bund und EU. Den Vorschlag für einen «Zukunfts­kon­vent» nahm er nicht auf, man denke noch über ein geeig­ne­tes Format nach. Zudem sei das Land «immer offen für konkre­te Vorschlä­ge, wie wir Verfah­ren verein­fa­chen und Bürokra­tie abbau­en können». CDU-Frakti­ons­chef Manuel Hagel begrüß­te dagegen die Idee eines Konvents, das Land brauche ein «Update». Man müsse sich fragen: «Was kann weg? Was muss bleiben?»

«Zukunfts­kon­vent» soll Abhil­fe schaffen

Kommu­nen und Wirtschaft argumen­tier­ten, die «Zeiten­wen­de» im Zuge des russi­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne zwinge das Land dazu, neu zu bestim­men, was vorran­gig ist und noch finan­ziert werden kann. «Die Zeit eines ungebrems­ten Drauf­sat­telns bei Standards, Rechts­an­sprü­chen und staat­li­chen Leistungs­zu­sa­gen ist vorbei», heißt es in dem Schrei­ben. Städte‑, Gemein­de- und Landkreis­tag sowie die Vertre­ter der Wirtschaft warnen Kretsch­mann vor einem Weiter-so und empfeh­len, den Koali­ti­ons­ver­trag zur Seite zu legen.

Klage über erzwun­ge­ne Selbstbeschäftigung

Die Analy­se der Verbän­de der aktuel­len Zustän­de fällt hart aus: «Bei ehrli­cher Betrach­tung beschäf­ti­gen sich Staat, Wirtschaft und Gesell­schaft viel zu oft mit sich selbst.» Als Beispie­le nennen sie die vielfäl­ti­gen Anfor­de­run­gen des Daten­schut­zes, fehlen­de Effizi­enz der Klima­schutz­maß­nah­men, überbor­den­de Regelun­gen beim Bauen, das kompli­zier­te Verga­be­recht oder die Aufla­gen für kleine und mittle­re Banken. «Die Folge sind lähmen­de Behäbig­keit und ein empfun­de­ner Still­stand.» Um dies zu überwin­den, müssten recht­li­che Rahmen­be­din­gun­gen flexi­bi­li­siert, staat­li­che Standards gesenkt und bürokra­ti­sche Hürden abgebaut werden.

DGB hält dagegen: «Alte Platte vom schlan­ken Staat»

Kai Burmeis­ter, Landes­chef des Deutschen Gewerk­schafts­bunds (DGB), kriti­sier­te den Brief. «Laute Rufe nach Bürokra­tie­ab­bau und Standard­ab­sen­kun­gen sind in der aktuel­len Situa­ti­on nicht hilfreich.» Das Land müsse seine finan­zi­el­len Handlungs­spiel­räu­me voll ausschöp­fen, Beschäf­tig­te und Betrie­be bräuch­ten Sicher­heit. Der DGB sei bereit, an neuen Zukunfts­kon­zep­ten mitzu­ar­bei­ten. «Für neue Forma­te sind wir offen, überflüs­sig wäre hinge­gen das erneu­te Abspie­len der alten Platte vom schlan­ken Staat.»

Die Initia­ti­ve geht auf den Präsi­den­ten des Gemein­de­tags, Steffen Jäger, zurück, der schon im April erklär­te hatte, angesichts der Krisen müsse es neue politi­sche Priori­tä­ten geben. An dem Brief betei­lig­te sich nun neben Jäger und Walter auch Städte­tags­chef Peter Kurz. Außer­dem mit dabei: Chris­ti­an Erbe, Präsi­dent des Baden-Württem­ber­gi­schen Indus­trie- und Handels­kam­mer­tags (BWIHK), Rainer Dulger vom Verband Unter­neh­mer Baden-Württem­berg, Rainer Reich­hold vom Handwerk sowie Peter Schnei­der, Präsi­dent des Sparkas­sen­ver­ban­des, und Roman Glaser vom Genos­sen­schafts­ver­band. Sie verwei­sen darauf, dass sie die 1101 Städte und Gemein­den, 35 Landkrei­se sowie die etwa 800.000 Betrie­be, 50 Sparkas­sen und rund 140 Volks­ban­ken und Raiff­ei­sen­ban­ken vertreten.

CDU sieht Deutsch­land vom «Wohlstand betäubt»

CDU-Frakti­ons­chef Hagel versprach, man werde tatkräf­tig mit anpacken. «Wir haben in den letzten Jahren engagier­te Debat­ten um Nachran­gi­ges wie die Einfüh­rung eines Veggie Days geführt. Deutsch­land war wie vom Wohlstand betäubt.» SPD-Partei- und Frakti­ons­chefs Andre­as Stoch sieht sich durch den Brief bestä­tigt und sprach von einer «völlig unange­mes­se­nen Behäbig­keit» der grün-schwar­zen Regie­rung. «Wer jetzt nicht die Hände aus den Taschen kriegt, verspielt wertvol­le Zeit und Zukunfts­chan­cen für das Land.» Die FDP stieß in das gleiche Horn. Grün-Schwarz zeige «Ermüdung, wo Taten gefragt sind», monier­te der Frakti­ons­vor­sit­zen­de Hans-Ulrich Rülke. Sein Kolle­ge Niko Reith sagte, der Brief spreche ihm «aus der Seele».

Die AfD ist anderer Meinung. «Was in diesem “Brand­brief” fehlt, ist eindeu­tig der “Brand», sagte Frakti­ons­chef Bernd Gögel. «Es steckt in diesem Brief­chen mehr Falsches als Richti­ges. Bei Bürokra­tie­ab­bau und der Erleich­te­rung von Bauvor­schrif­ten können wir noch zustim­men. Aber die Forde­rung nach einem zusätz­li­chen Gremi­um, um diese Dinge anzuge­hen, ist einfach Quatsch.» Man könne nicht für jedes Problem im Land einen Stuhl­kreis bilden.

Von Henning Otte, dpa