KIEW/MOSKAU/KAIRO (dpa) — Russland bestä­tigt den Raketen­an­griff auf den Hafen von Odessa. Derweil liefern sich Kiew und Moskau nicht nur mit Artil­le­rie ein Duell, sondern auch rheto­risch. Die Entwick­lun­gen im Überblick:

Das russi­sche Militär bestä­tigt den Beschuss der ukrai­ni­schen Hafen­stadt Odessa, die Moskau­er Führung sieht das Getrei­de­ab­kom­men trotz­dem nicht in Gefahr. Gleich­zei­tig nannte Russlands Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow während seiner Afrika­rei­se offen den Sturz der ukrai­ni­schen Führung, die er als «volks- und geschichts­feind­lich» bezeich­ne­te, als Ziel.

Wider­spruch aus Kiew ließ nicht lange auf sich warten. Den Angriff auf die Ukrai­ne könne nur jemand befeh­len, der die wahre Geschich­te des Volkes nicht kenne, konter­te der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj am Abend. Heute ist der 151. Tag des Kriegs.

Faeser und Heil besuchen zerstör­te Stadt Irpin

Bundes­in­nen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser und Sozial­mi­nis­ter Huber­tus Heil (beide SPD) sind am Montag zu einem Besuch in der Ukrai­ne angekom­men. Zum Auftakt ihrer Reise wollten die SPD-Politi­ker am Montag­vor­mit­tag die vom Krieg zerstör­te Stadt Irpin besuchen. In der rund 30 Kilome­ter nordwest­lich von Kiew gelege­nen Stadt lebten vor dem Krieg rund 50 000 Menschen, inzwi­schen ist sie weitge­hend zerstört und gleicht einer Geisterstadt.

Wie in dem nahe gelege­nen Vorort Butscha sollen durch russi­sche Besat­zer auch in Irpin schlim­me Kriegs­ver­bre­chen began­gen worden seien. Anfang Mai hatte sich auch Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock (Grüne) vor Ort ein persön­li­ches Bild gemacht.

Für Faeser und Heil ist es der erste Besuch in der Ukrai­ne seit Beginn des Krieges. Geplant sind neben dem Besuch von Irpin auch Treffen mit ukrai­ni­schen Politi­kern, darun­ter Faesers Amtskol­le­ge Denys Monastyrs­kyj, Zivil­schutz­chef Serhij Kruk, Vizere­gie­rungs­chefin und Wirtschafts­mi­nis­te­rin Julia Swyry­den­ko, Sozial­mi­nis­te­rin Oxana Schol­no­wytsch und Kiews Bürger­meis­ter Vitali Klitschko.

Lawrow glaubt an Getrei­de­deal und «Regime­wech­sel» in Kiew

Trotz des Angriffs bekräf­tig­te Lawrow die Gültig­keit der inter­na­tio­na­len Einigung über die Ausfuhr von ukrai­ni­schem Getrei­de über das Schwar­ze Meer. Die Passa­ge über einen Seekor­ri­dor solle von einem Kontroll­zen­trum in Istan­bul überwacht werden, sagte er am Sonntag bei einem Besuch in der ägypti­schen Haupt­stadt Kairo.

Dort sollen Vertre­ter der Ukrai­ne, Russlands, der Türkei und der Verein­ten Natio­nen tätig sein. Russi­sche und türki­sche Streit­kräf­te würden gemein­sam auf dem offenen Meer für die Sicher­heit der Schif­fe sorgen, sagte Lawrow. Später sprach er noch von einer dritten bislang noch nicht benann­ten Partei, die an den Kontrol­len betei­ligt sein werde.

In Ägypten profi­lier­te sich Russlands Chefdi­plo­mat zugleich mit Äußerun­gen zu einem geplan­ten Sturz der ukrai­ni­schen Regie­rung, die in dieser Offen­heit bisher noch nicht aus Moskau zu hören waren. «Wir helfen dem ukrai­ni­schen Volk auf jeden Fall, sich von dem absolut volks- und geschichts­feind­li­chen Regime zu befrei­en», sagte er. Das russi­sche und ukrai­ni­sche Volk würden künftig zusammenleben.

Die russi­sche Führung hat in den vergan­ge­nen Tagen öffent­lich ihre Positi­on im Ukrai­ne-Krieg verschärft. So drohte Lawrow am Mittwoch mit der Beset­zung weite­rer Gebie­te auch außer­halb des Donbass. Angesichts der westli­chen Waffen­lie­fe­run­gen und deren höherer Reich­wei­te sei es nötig, die Kiewer Truppen weiter abzudrän­gen von den Gebie­ten Donezk und Luhansk im Osten der Ukrai­ne, die Moskau als unabhän­gig anerkannt hat. Mit der jetzi­gen Ankün­di­gung eines geplan­ten Regime­wech­sels in Kiew wider­sprach Lawrow frühe­ren Aussa­gen. Im April hatte er solche Pläne noch dementiert.

Selen­skyj: Angriff zeugt von Unkennt­nis der Geschichte

Den Vorwurf des «geschichts­feind­li­chen Regimes» schick­te Kiew umgehend an den Adres­sa­ten zurück. «Nur dieje­ni­gen, die die wahre Geschich­te nicht kennen und ihre Bedeu­tung nicht spüren, konnten sich entschei­den, uns anzugrei­fen», erwider­te Selen­skyj in seiner Video­an­spra­che am Abend. Jahrhun­der­te seien die Ukrai­ner unter­drückt worden und sie würden ihre Unabhän­gig­keit niemals aufgeben.

Die Bewah­rung der natio­na­len Einheit ist laut dem Präsi­den­ten nun die wichtigs­te Aufga­be der Ukrai­ner, um den Krieg zu gewin­nen und Mitglied der Europäi­schen Union zu werden. «Jetzt die Einheit zu bewah­ren, gemein­sam für den Sieg zu arbei­ten, ist die wichtigs­te natio­na­le Aufga­be, die wir zusam­men bewäl­ti­gen müssen», sagte er.

Wenn die Ukrai­ner dies schaff­ten, werde ihnen gelin­gen, was Genera­tio­nen vorher misslun­gen sei. Die Unabhän­gig­keit von Russland zu wahren, sich zu einem der moderns­ten Staaten der Welt zu wandeln und gleich­zei­tig den eigenen Weg Richtung Europa zu gehen, der nach Angaben Selen­sky­js mit einer Vollmit­glied­schaft in der EU enden wird.

Kiew meldet anhal­ten­de Gefech­te im Donbass

Die russi­schen Truppen haben nach Angaben aus Kiew in der Nacht weite­re Sturm­ver­su­che östlich und südöst­lich des Ballungs­raums Slowjansk — Krama­torsk im Gebiet Donezk im Osten der Ukrai­ne unter­nom­men. «Der Gegner führt einen Angriff unweit von Spirne, die Kampf­hand­lun­gen halten an», teilte der ukrai­ni­sche General­stab am Montag in seinem Lagebe­richt mit. Gekämpft werde ebenso um Voror­te des Verkehrs­kno­ten­punkts Bachmut.

In den meisten Fällen seien die Angrif­fe abgewehrt und die russi­schen Truppen zurück­ge­schla­gen worden, teilte der General­stab mit. Unabhän­gig sind die Angaben nicht zu überprüfen.

Zum Kampf­ge­sche­hen im Süden des Landes, im Gebiet Cherson, beschränk­te sich der General­stab auf die Meldung schwe­rer Artil­le­rie­ge­fech­te und russi­scher Luftangriffe.

Kissin­ger: keine Aufga­be ukrai­ni­scher Gebiete

Der frühe­re US-Außen­mi­nis­ter und Friedens­no­bel­preis­trä­ger, Henry Kissin­ger, hat der Ukrai­ne und dem Westen geraten, in Verhand­lun­gen mit Russland keine nach Kriegs­be­ginn besetz­ten Gebie­te abzutreten.

Die Verant­wort­li­chen des Westens müssten vorher Grenzen ziehen, «und ukrai­ni­sches Staats­ge­biet aufzu­ge­ben, sollte nicht eine der Bedin­gun­gen sein, die wir akzep­tie­ren können», sagte Kissin­ger laut Überset­zung am Sonntag im ZDF-«heute journal». Vor Verhand­lun­gen müsse man sich klar werden, worüber man bereit sei zu verhan­deln, und was man unter keinen Umstän­den bereit sei preiszugeben.

Auch FDP offen für direk­te Panzer­lie­fe­run­gen an Ukraine

Wegen der stocken­den Waffen­lie­fe­run­gen per Ringtausch zeigt sich nun auch die FDP-Politi­ke­rin Marie-Agnes Strack-Zimmer­mann offen für die direk­te Liefe­rung deutscher Panzer in die Ukrai­ne. Die Vorsit­zen­de des Vertei­di­gungs­aus­schus­ses des Bundes­tags räumt ein, dass die osteu­ro­päi­schen Bündnis­part­ner für ihre Waffen­lie­fe­run­gen in die Ukrai­ne bisher nicht so schnell wie erwar­tet mit Ersatz ausge­stat­tet werden konnten.

«Wenn das für die Partner proble­ma­tisch ist, sollten wir den Ringtausch einstel­len und direkt an die Ukrai­ne liefern — gegebe­nen­falls auch den (Kampf­pan­zer) Leopard 2. Die Zeit drängt», sagte Strack-Zimmer­mann der Deutschen Presse-Agentur.

Russland will Ukrai­ner vor eigenes Tribu­nal stellen

Russland will mehr als 200 Ukrai­ner wegen Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit vor einem noch zu schaf­fen­den inter­na­tio­na­len Tribu­nal verur­tei­len. Da die Verein­ten Natio­nen vom Westen dominiert würden, solle so ein Tribu­nal statt­des­sen unter der Führung einer Partner­or­ga­ni­sa­ti­on Russlands stehen, sagte der Chef des russi­schen Ermitt­lungs­ko­mi­tees, Alexan­der Bastry­kin, in einem Inter­view mit der staat­li­chen Zeitung «Rossijs­ka­ja Gaseta» am Montag. Seinen Angaben nach haben unter anderem Bolivi­en, der Iran und Syrien Inter­es­se an einer Betei­li­gung bekun­det. Der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof hat Anfang des Monats Ermitt­lun­gen zu russi­schen Kriegs­ver­bre­chen in der Ukrai­ne aufgenommen.

Wegen Verbre­chen gegen die Zivil­be­völ­ke­rung im Donbass seien bereits mehr als 1300 Straf­ver­fah­ren gegen mehr als 400 Perso­nen einge­lei­tet worden. In den Vorer­mitt­lun­gen seien gut 220 Perso­nen der Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit und den Frieden überführt worden — Ankla­ge­punk­te, die nicht verjähr­ten. «92 Komman­deu­re und ihre Unter­ge­be­nen wurden angeklagt, 96 weite­re, darun­ter 51 ukrai­ni­sche Offizie­re, zur Fahndung ausge­schrie­ben», rappor­tier­te Bastrykin.

Das wird heute wichtig

Russlands Außen­mi­nis­ter Lawrow setzt seine fünftä­gi­ge Afrika­rei­se fort. Die Tournee gilt aus Moskau­er Sicht als wichti­ges Zeichen dafür, dass Russland inter­na­tio­nal nicht isoliert ist. Die russi­sche Führung sieht in der Reise zudem ein Mittel, die Staaten in Afrika in diesem Konflikt auf ihre Seite zu ziehen. Der Hunger in der Welt, so die russi­sche Darstel­lung, sei vom Westen verur­sacht — unter anderem in der Behin­de­rung russi­scher Lebens­mit­tel- und Düngemittelexporte.

Derweil wartet vor allem Deutsch­land darauf, ob Russland die in Kanada reparier­te und lange wegen Sanktio­nen zurück­ge­hal­te­ne Turbi­ne zurück­nimmt. Moskau hatte mit der fehlen­den Turbi­ne die Drosse­lung der Gaslie­fe­run­gen über die Ostsee­pipe­line Nord Stream 1 seit Juni begrün­det und immer wieder die Rückga­be des Aggre­gats und der dazuge­hö­ri­gen Dokumen­te gefor­dert. Nun mehren sich Zweifel, dass Moskau überhaupt an dem Rückein­bau der Turbi­ne inter­es­siert ist. Berich­ten zufol­ge zögert Moskau seiner­seits mit der Bereit­stel­lung der nötigen Dokumen­te für die Überstel­lung der Maschine.