KIEW/MOSKAU/BERLIN (dpa) — Die Ukrai­ne meldet weite­re Gelän­de­ge­win­ne, russi­sche Besat­zer ziehen sich zurück. Aber wie bedeut­sam sind diese militä­ri­schen Erfol­ge? Die News im Überblick.

Im Abwehr­kampf gegen Russland hat die Ukrai­ne weite­re Gelän­de­ge­win­ne im Nordos­ten des Landes gemel­det. Demnach zogen sich russi­sche Truppen nach ihrer Nieder­la­ge in der Region bei Charkiw aus ersten Orten im Nachbar­ge­biet Luhansk zurück.

Die USA dämpf­ten nach dem ukrai­ni­schen Vormarsch jedoch die Eupho­rie: Die Fortschrit­te seien bedeut­sam, doch sei es zu früh, die weite­re Entwick­lung zu beurtei­len, sagte US-Außen­mi­nis­ter Antony Blinken in Mexiko. Zugleich ermun­ter­te die US-Botschaft in Berlin Deutsch­land und andere Verbün­de­te, bei der Militär­hil­fe «so viel Unter­stüt­zung wie möglich zu leisten».

Deutsch­land ringt indes immer stärker mit den Folgen des Krieges. So rief Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) dazu auf, die Preis- und Energie­kri­se gemein­sam zu überwin­den. Er sei froh, dass Arbeit­ge­ber und Gewerk­schaf­ten diese Woche erneut in der sogenann­ten konzer­tier­ten Aktion berie­ten, sagte Scholz in Berlin. Er beton­te, die Regie­rung werde «dafür Sorge tragen, dass es möglich ist, dass die süddeut­schen Atomkraft­wer­ke im Januar und Febru­ar und März noch laufen können, damit es auf keinen Fall zu einem Engpass im deutschen Strom­markt kommt». Wirtschafts­mi­nis­ter Robert Habeck (Grüne) stell­te zudem Mittel­ständ­lern mit hohem Energie­be­darf Zuschüs­se für ihre Gas- und Strom­kos­ten in Aussicht.

Arbeit­ge­ber­prä­si­dent Rainer Dulger verwies jedoch auf erheb­li­che Rezes­si­ons­ängs­te der Unter­neh­men. Verbrau­cher dürften sich zudem wegen der stark steigen­den Preise sorgen: Das Statis­ti­sche Bundes­amt melde­te für August einen Sprung der Infla­ti­ons­ra­te auf 7,9 Prozent. Der Deutsche Städte­tag wieder­um warnt vor Engpäs­sen bei der Unter­brin­gung von Ukraine-Flüchtlingen.

Ukrai­ne meldet russi­schen Rückzug auch aus Teilen von Luhansk

Im Kriegs­ge­biet selbst wende­te sich das Blatt in den vergan­ge­nen Tagen: Das ukrai­ni­sche Militär gewann vor allem im Osten und Süden des Landes Gebie­te zurück, während die russi­schen Besat­zer überstürzt abrück­ten. Nach der Region um die Millio­nen­stadt Charkiw gilt dies auch für erste Orte im Nachbar­ge­biet Luhansk, wie der dorti­ge ukrai­ni­sche Militär­gou­ver­neur Serhij Hajdaj mitteil­te. Unabhän­gig zu überprü­fen waren diese Aussa­gen zunächst nicht.

Mithil­fe westli­cher Waffen will Kiew die Regio­nen Luhansk und Donezk zurück­er­obern. Russland hatte die vollstän­di­ge Einnah­me von Luhansk im Juli gemel­det. In Donezk halten die Ukrai­ner eigenen Angaben zufol­ge derzeit rund 40 Prozent des Gebiets.

Ukrai­ne befrei­te in einer Woche mindes­tens 300 Ortschaften

In einer Woche hat die Ukrai­ne außer­dem im östli­chen Gebiet Charkiw mindes­tens 300 Ortschaf­ten mit knapp 150.000 Einwoh­nern auf 3800 Quadrat­ki­lo­me­tern befreit. Das sagte Vize-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rin Hanna Maljar in Balak­li­ja, einer der zurück­er­ober­ten Städte. Dies seien nur die bestä­tig­ten Zahlen, sagte sie einer Mittei­lung auf Telegram zufol­ge. Vermut­lich sei das befrei­te Terri­to­ri­um im Gebiet Charkiw fast doppelt so groß. Am Mittwoch werde es weite­re Daten geben.

Kreml: Keine Generalmobilmachung

Die russi­sche Führung um Präsi­dent Wladi­mir Putin gibt sich trotz der Rückschlä­ge unauf­ge­regt. Es sei keine General­mo­bil­ma­chung geplant, sagte Kreml­spre­cher Dmitri Peskow laut Agentur Inter­fax. Doch werden in Moskau Rufe nach Konse­quen­zen lauter — darun­ter auch nach einer teilwei­sen oder vollstän­di­gen Mobil­ma­chung, um die ausge­ge­be­nen Ziele der sogenann­ten Spezi­al­ope­ra­ti­on zu erreichen.

Zugleich gibt es Hinwei­se auf vermehr­te Kritik an Putin. Dutzen­de Lokal­po­li­ti­ker in Russland forder­ten seinen Rücktritt. Es kämen neue Unter­stüt­zer hinzu, schrieb die Abgeord­ne­te eines St. Peters­bur­ger Bezirks­rats, Xenia Torstrem, auf Twitter. Die direk­ten Auswir­kun­gen solcher Protest­ak­tio­nen dürften aber gering sein. Seit dem Einmarsch in die Ukrai­ne am 24. Febru­ar geht Russlands Justiz beson­ders hart gegen Opposi­tio­nel­le und Anders­den­ken­de vor.

Briten sehen Rückschlag für Eliteeinheit

Auch die strate­gi­sche Lage nach den jüngs­ten Erfol­gen der Ukrai­ne ist nicht leicht einzu­schät­zen. «Wir haben eindeu­tig bedeu­ten­de Fortschrit­te bei den Ukrai­nern gesehen, insbe­son­de­re im Nordos­ten», sagte US-Außen­mi­nis­ter Blinken in Mexiko und lobte den Mut der Ukrai­ner. Doch fügte er hinzu, es sei zu früh zu sagen, wie sich die Lage weiter­ent­wi­ckeln werde. «Die Russen haben in der Ukrai­ne weiter sehr umfang­rei­che Streit­kräf­te sowie Ausrüs­tung, Waffen und Munition.»

Nach Einschät­zung der briti­schen Geheim­diens­te sind führen­de Einhei­ten der russi­schen Armee jedoch enorm geschwächt. Betrof­fen sei auch die Erste Garde­pan­zer­ar­mee, die zu den presti­ge­träch­tigs­ten Einhei­ten des russi­schen Militärs gehört. Teile dieser Einheit hätten sich vergan­ge­ne Woche aus der Region Charkiw zurückgezogen.

Strom­aus­fall in Charkiw

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj forder­te erneut von den westli­chen Verbün­de­ten mehr Waffen — in diesem Fall Luftab­wehr­waf­fen, da Russland in den vergan­ge­nen Tagen unter anderem Strom­net­ze in der Ukrai­ne attackiert hatte. Auch am Diens­tag gab es Strom­aus­fäl­le in Charkiw. Deutsch­land hat der Ukrai­ne das moder­ne Luftab­wehr­sys­tem Iris‑T zugesagt. Die Ukrai­ne hofft auf eine schnel­le Lieferung.

«Deutsch­land, wir warten auf Dein Wort»

Selen­sky­js Berater Mycha­j­lo Podol­jak kriti­sier­te das deutsche Zögern bei Panzer­lie­fe­run­gen. «Sechs Monate lang gibt es keine Panzer, weil es keine «politi­sche Entschei­dung» dafür gibt», schrieb er auf Deutsch bei Twitter. Russland könne deswe­gen den «Terror» fortset­zen, Ukrai­ner müssten sterben. «Deutsch­land, wir warten auf Dein Wort», richte­te sich Podol­jak an Berlin.

Dort wird über die Abgabe weite­rer Waffen­sys­te­me weiter gestrit­ten, auch mit Blick auf Panzer. Die Debat­te tritt aber weitge­hend auf der Stelle: Kanzler Scholz und die SPD sind zurück­hal­tend und wenden sich gegen «Allein­gän­ge». Die Koali­ti­ons­part­ner Grüne und FDP machen Druck.

Die US-Botschaft in Berlin ermun­ter­te Deutsch­land, bei der Militär­hil­fe für die Ukrai­ne «so viel Unter­stüt­zung wie möglich» zu leisten. «Die Entschei­dung über die Art der Hilfen liegt letzt­lich bei jedem Land selbst», schrieb die Vertre­tung auf Twitter.