KIEW/NEW YORK (dpa) — Wegen der militä­ri­schen Rückschlä­ge in der Ukrai­ne beruft Russland Hundert­tau­sen­de Reser­vis­ten ein. Das sorgt für Unruhe, viele junge Männer flüch­ten aus dem Land. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj hat vor den Verein­ten Natio­nen eine Bestra­fung Russlands für den Angriffs­krieg gegen sein Land verlangt. «Es wurde ein Verbre­chen gegen die Ukrai­ne began­gen, und wir fordern eine Bestra­fung», sagte Selen­skyj in einer Video­bot­schaft vor der UN-Vollver­samm­lung in New York. Russland müsse bestraft werden für das Morden, die Folter, die Ernied­ri­gun­gen und die desas­trö­sen Turbu­len­zen, in die es die Ukrai­ne gestürzt habe.

Gleich­zei­tig vollzo­gen die Ukrai­ne und Russland in der Nacht auf Donners­tag einen der größten Gefan­ge­nen­aus­tau­sche in dem fast sieben Monate dauern­den Krieg. 205 gefan­ge­ne Ukrai­ner wurden freige­las­sen, wie der Leiter des ukrai­ni­schen Präsi­di­al­am­tes, Andrij Jermak, mitteil­te. Dazu zählten auch Vertei­di­ger von Mariu­pol, die verschanzt im Stahl­werk Azovs­tal bis Mitte Mai Wider­stand gegen die russi­schen Erobe­rer geleis­tet hatten.

In Russland protes­tier­ten angesichts der vom Kreml verkün­de­ten Einbe­ru­fung von 300.000 Reser­vis­ten mehre­re Tausend Menschen. Die Polizei nahm nach Zählung des Bürger­rechts-Portals OVD-Info bis Mittwoch­abend mehr als 1380 Protest­ler in 38 Städten fest, die meisten davon in St. Peters­burg und Moskau. Für die Ukrai­ne ist Donners­tag der 211. Tag des russi­schen Angriffskrieges.

Selen­skyj will Russland isolieren

Als eine Strafe für Russland forder­te Selen­skyj, das Nachbar­land in inter­na­tio­na­len Organi­sa­tio­nen zu isolie­ren — zumin­dest solan­ge die Aggres­si­on andaue­re. «Nehmt das Stimm­recht weg! Entzieht den Delega­tio­nen ihre Privi­le­gi­en! Hebt das Vetorecht auf, wenn es sich um ein Mitglied des UN-Sicher­heits­rats handelt!», appel­lier­te der ukrai­ni­sche Präsi­dent. Eine Blocka­de aller Bezie­hun­gen mit Russland, auch des Handels, sei zugleich eine Strafe für Moskau und ein Schritt zum Frieden für die Ukrai­ne. Die meisten Vertre­ter der 193 UN-Mitglieds­staa­ten spende­ten der Rede des ukrai­ni­schen Präsi­den­ten stehend Applaus. Die Vertre­ter Russlands blieben derweil sitzen.

Gefan­ge­nen­aus­tausch: «Unsere Helden sind frei»

Bei dem Gefan­ge­nen­aus­tausch ließ die Ukrai­ne nach Jermaks Angaben 55 russi­sche Solda­ten frei, die bei der Offen­si­ve im Gebiet Charkiw Anfang Septem­ber gefan­gen genom­men worden waren. Auch durfte der festge­nom­me­ne prorus­si­sche Politi­ker Viktor Medwedt­schuk, ein Vertrau­ter von Präsi­dent Wladi­mir Putin, ausreisen.

Der türki­sche Präsi­dent Recep Tayyip Erdogan erklär­te, der Austausch sei unter Vermitt­lung der Türkei zustan­de gekom­men, wie die staat­li­che Nachrich­ten­agen­tur Anado­lu melde­te. Erdogan nannte die Einigung demnach einen «wichti­gen Schritt» hin zur Beendi­gung des Kriegs in der Ukrai­ne. Fünf der in Mariu­pol gefan­ge­nen ukrai­ni­schen Komman­deu­re seien in der Türkei unter dem beson­de­ren Schutz Erdogans, teilte Jermak mit. «Unsere Helden sind frei», schrieb er.

Separa­tis­ten lassen zehn Auslän­der frei

Im Rahmen des Austauschs gaben die von Moskau gesteu­er­ten Separa­tis­ten in der Ostukrai­ne zehn Auslän­der frei, die unter Vermitt­lung Saudi-Arabi­ens nach Riad ausge­flo­gen wurden. Dabei handel­te es sich um fünf Briten, zwei US-Ameri­ka­ner und je einen Schwe­den, Kroaten und Marokkaner.

Die briti­sche Premier­mi­nis­te­rin Liz Truss sprach auf Twitter von einer «sehr willkom­me­nen Nachricht». Damit seien Monate der Unsicher­heit und des Leidens für die Betrof­fe­nen und ihre Famili­en zu Ende gegan­gen. Zu den Freige­las­se­nen zählt ein 28-jähri­ger Brite, der in einem Schau­pro­zess als Söldner zum Tode verur­teilt worden war, wie Gesund­heits­staats­se­kre­tär Robert Jenrick mitteilte.

US-Außen­mi­nis­ter Antony Blinken bestä­tig­te, dass sich seine beiden freige­las­se­nen Lands­leu­te zuvor den ukrai­ni­schen Truppen angeschlos­sen hätten und im Gefecht gefan­gen genom­men worden seien. US-Bürger sollten derzeit nicht in die Ukrai­ne reisen, warnte Blinken, sondern das angegrif­fe­ne Land lieber anders unterstützen.

Protes­te gegen die Mobil­ma­chung in Russland

Der Protest gegen die von Putin angeord­ne­te Teilmo­bil­ma­chung brach­te in Russland Tausen­de Menschen auf die Straßen. Allein in St. Peters­burg wurden nach Angaben von OVD-Info über 550 Demons­tran­ten in Gewahr­sam genom­men, in der Haupt­stadt Moskau waren es ebenfalls mehr als 500.

In Moskau riefen die Menschen «Nein zum Krieg!» und forder­ten ein «Russland ohne Putin». Fotos und Videos zeigten, wie Polizis­ten die meist jungen Demons­tran­ten grob packten und in Busse schlepp­ten. Von dort wurden die Festge­nom­me­nen in Polizei­sta­tio­nen gebracht. Ähnlich große Protes­te hatte es zuletzt in den Tagen direkt nach dem russi­schen Einmarsch in die Ukrai­ne am 24. Febru­ar gegeben.

Die Einbe­ru­fung der Reser­vis­ten soll den offen­kun­di­gen Solda­ten­man­gel der russi­schen Streit­kräf­te im Ukrai­ne-Krieg ausglei­chen. Mit völker­recht­lich völlig wertlo­sen Schein­re­fe­ren­den will Moskau außer­dem die besetz­ten Gebie­ten in der Ukrai­ne an Russland anschließen.

Um der Gefahr einer Einbe­ru­fung zu entge­hen, setzten sich sofort viele junge Männer aus Russland ab. Die Preise für Flugti­ckets in die Türkei, nach Serbi­en, Kasach­stan, Georgi­en und Armeni­en schos­sen Medien­be­rich­ten zufol­ge in die Höhe. «Anschei­nend verlas­sen viele Russen ihre Heimat: Wer Putins Weg hasst und die libera­le Demokra­tie liebt, ist uns in Deutsch­land herzlich willkom­men», schrieb Bundes­jus­tiz­mi­nis­ter Marco Busch­mann (FDP) auf Twitter.

Die Außen­mi­nis­ter der sieben führen­den demokra­ti­schen Wirtschafts­mäch­te (G7) forder­ten alle Staaten dazu auf, die Schein­re­fe­ren­den zu verur­tei­len und Ergeb­nis­se nicht anzuer­ken­nen. Außer­dem würden weite­re geziel­te Sanktio­nen gegen Russland voran­ge­trie­ben, hieß es in einer mit dem EU-Außen­be­auf­trag­ten Josep Borrell abgestimm­ten Stellung­nah­me. Russland habe sich angesichts der Teilmo­bi­li­sie­rung, Schein­re­fe­ren­den und Drohung mit dem Einsatz von Massen­ver­nich­tungs­waf­fen für den «Weg der Konfron­ta­ti­on» entschie­den, kriti­sier­te Borrell. Damit bürde Moskau auch dem eigenen Volk zusätz­li­che Kriegs­kos­ten auf.

Atomex­per­ten verhan­deln über Schutz­zo­ne für AKW

Die Inter­na­tio­na­le Atomener­gie­be­hör­de (IAEA) hat nach Angaben von Direk­tor Rafael Grossi «echte Verhand­lun­gen» mit Russland und der Ukrai­ne über eine Schutz­zo­ne für das umkämpf­te Atomkraft­werk Saporischschja aufge­nom­men. Grossi sagte in New York, er habe sich am Rande der UN-Vollver­samm­lung mit dem russi­schen Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow und mit dem ukrai­ni­schen Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba getrof­fen. «Die Räder sind in Bewegung.»

Ein konkre­tes Ergeb­nis gebe es noch nicht, sagte Grossi. Aber er habe den Eindruck, dass es auf allen Seiten die Überzeu­gung gebe, dass die Einrich­tung einer solchen Schutz­zo­ne unver­zicht­bar sei. Das Kernkraft­werk Saporischschja steht seit Anfang März unter russi­scher Kontrol­le und wird immer wieder beschossen.

Das wird am Donners­tag wichtig

In New York tritt der UN-Sicher­heits­rat zusam­men, dazu werden sowohl Lawrow wie Kuleba erwar­tet. Auch Bundes­au­ßen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock von den Grünen soll bei der Sitzung sprechen.