KIEW/NEW YORK/MOSKAU (dpa) — Trotz Kritik treibt Russland seine Annexi­ons­plä­ne mit Schein­re­fe­ren­den im besetz­ten Teil der Ukrai­ne voran. Auf der UN-Bühne kommt es zum rheto­ri­schen Schlag­ab­tausch. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

In vier von Russland besetz­ten ukrai­ni­schen Gebie­ten laufen die letzten Vorbe­rei­tun­gen für Schein­re­fe­ren­den über einen Beitritt zu Russland. Die Abstim­mun­gen unter Kriegs­recht in Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja sollen heute begin­nen und sind ohne Chance auf breite inter­na­tio­na­le Anerkennung.

Mit der von ihr initi­ier­ten Teilmo­bi­li­sie­rung stößt die Führung in Moskau derweil auch im eigenen Land auf Wider­stand, den die Ukrai­ne zusätz­lich zu schüren versucht: Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj rief die Russen in seiner tägli­chen Video­bot­schaft dazu auf, gegen die Mobili­sie­rung zu protes­tie­ren und sich der Einbe­ru­fung zu entziehen.

«Protes­tiert! Kämpft! Lauft weg! Oder begebt Euch in ukrai­ni­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft! Das sind die Varian­ten für Euch zu überle­ben», sagte Selen­skyj in seiner auf Russisch vorge­tra­ge­nen Anspra­che. Seinen Angaben nach sind bereits 55.000 russi­sche Solda­ten in der Ukrai­ne ums Leben gekom­men, laut Moskau sind es knapp 6000. Mit einem Appell wandte sich Selen­skyj an die Mütter und Ehefrau­en der Einbe­ru­fe­nen: «Zweifelt nicht daran, dass die Kinder der Führung Eures Staats nicht am Krieg gegen die Ukrai­ne teilneh­men. Dieje­ni­gen, die die Entschei­dun­gen in Eurem Land treffen, schüt­zen ihre Kinder. Und Eure Kinder werden nicht einmal beerdigt.»

An die eigenen Lands­leu­te gerich­tet erklär­te Selen­skyj, die Mobili­sie­rung in Russland sei ein Zeichen der Stärke der Ukrai­ne. Mit der Entschei­dung werde der Krieg für die Russen nicht mehr nur ein Ereig­nis aus dem Fernse­hen sein, sondern ins reale Leben einzie­hen. Für die Ukrai­ner hinge­gen ändere sich dadurch nichts, sie würden weiter für die Befrei­ung ihres Landes kämpfen, gab er sich überzeugt. Mit Blick auf die UN-Vollver­samm­lung erklär­te der ukrai­ni­sche Präsi­dent, dass die Ukrai­ne nun von einem noch größe­ren Kreis an Staaten der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft unter­stützt werde.

Diplo­ma­ti­scher Schlag­ab­tausch bei den Verein­ten Nationen

In New York, wo Selen­skyj am Vortag seine Rede vor den Verein­ten Natio­nen gehal­ten hatte, gingen derweil die verba­len Ausein­an­der­set­zun­gen zwischen Russland und der vom Westen unter­stütz­ten Ukrai­ne weiter. Moskau habe keiner­lei Inter­es­se an Friedens­ge­sprä­chen und «sucht nur nach einer militä­ri­schen Lösung», sagte der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba vor dem UN-Sicher­heits­rat. Russi­schen Diplo­ma­ten warf er ein «außer­ge­wöhn­li­ches Maß an Lügen» vor. Mit Blick auf den russi­schen Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow, der den Saal bei dem Treffen zur Ukrai­ne rund 90 Minuten zu spät betre­ten und dann direkt nach seiner Rede wieder verlas­sen hatte, sagte Kuleba: «Ich habe heute auch bemerkt, dass russi­sche Diplo­ma­ten genau­so fliehen wie russi­sche Soldaten.»

Lawrow wieder­um warf dem Westen wegen dessen Waffen­lie­fe­run­gen und der Unter­stüt­zung für Kiew eine direk­te Einmi­schung in den Krieg vor. «Diese Politik, Russland zu zermür­ben und zu schwä­chen, bedeu­tet die direk­te Einmi­schung des Westens in den Konflikt und macht ihn zu einer Konflikt­par­tei», sagte Lawrow bei seinem Kurzauf­tritt in der Sitzung des UN-Sicher­heits­rats. Die Positi­on jener Staaten, «die die Ukrai­ne mit Waffen vollpum­pen und ihre Solda­ten ausbil­den», sei beson­ders zynisch. Ziel dieser Unter­stüt­zung sei offen­sicht­lich, die Kämpfe «trotz der Opfer und der Zerstö­rung so lange wie möglich hinaus­zu­zö­gern», sagte Lawrow.

Kreml demen­tiert höhere Zahlen zu Mobilisierung

Zwar haben in Russland viele Menschen bereits ihren Einbe­ru­fungs­be­scheid erhal­ten. Berich­te, wonach gar die Einbe­ru­fung von bis zu einer Milli­on Reser­vis­ten möglich sei, stell­te Kreml­spre­cher Dmitri Peskow jedoch als Lüge dar. Das Inter­net­por­tal der in Russland inzwi­schen einge­stell­ten Zeitung «Nowaja Gaseta» schrieb dagegen, Präsi­dent Wladi­mir Putin habe dem Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um freie Hand zur Mobili­sie­rung von bis zu einer Milli­on Mann gegeben. Dies stehe in Punkt 7 von Putins Erlass vom Mittwoch. Dieser Punkt fehlte in der Veröf­fent­li­chung und war als «Nur für den Dienst­ge­brauch» eingestuft.

Die aus dem Exil agieren­de Zeitung berief sich in ihrem Bericht auf angeb­li­che Quellen im russi­schen Präsi­di­al­amt. Peskow selbst hatte am Mittwoch gesagt, dass es im besag­ten Absatz des Erlas­ses um die Zahl der Reser­vis­ten gehe. Es gelte jedoch, dass 300.000 Mann einbe­ru­fen werden sollten, wie es Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Sergej Schoi­gu angekün­digt habe.

Angesichts der vom Kreml verkün­de­ten Mobili­sie­rung versu­chen viele junge Männer, sich aus Russland abzuset­zen. Zudem gab es in Moskau, Sankt Peters­burg und anderen Städten des Landes Protes­te gegen den erzwun­ge­nen Dienst an der Waffe — und Hunder­te Festnahmen.

Deutsche Politi­ker machten sich für die erleich­ter­te Aufnah­me russi­scher Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer und Deser­teu­re hierzu­lan­de stark. Irene Mihalic, die Erste Parla­men­ta­ri­sche Geschäfts­füh­re­rin der Grünen-Bundes­tags­frak­ti­on, sagte der «Rheini­schen Post»: «Wer sich als Soldat an dem völker­rechts­wid­ri­gen und mörde­ri­schen Angriffs­krieg Putins gegen die Ukrai­ne nicht betei­li­gen möchte und deshalb aus Russland flieht, dem muss in Deutsch­land Asyl gewährt werden.» SPD-Frakti­ons­vi­ze Dirk Wiese sagte der Zeitung, allein die drohen­den Strafen bei Boykott der Einbe­ru­fung «halte ich bereits nach jetzi­ger Rechts­la­ge für ausrei­chend als Asylgrund». Ähnli­che Stimmen gab es auch aus der Unionsfraktion.

Der CDU-Außen­po­li­ti­ker Norbert Röttgen sieht Putin spätes­tens mit der Teilmo­bil­ma­chung auch im eigenen Land massiv unter Druck. «Ich würde sagen, es ist das Stadi­um erreicht, dass seine Autori­tät bröckelt», sagte er am Donners­tag in der ZDF-Sendung «maybrit illner». «Er hat jetzt dem eigenen Volk, den jungen Leuten Angst gemacht.» Putins System lasse militä­ri­sche und politi­sche Schwä­che erken­nen, was letzt­lich dazu führen könne, «dass wieder Diplo­ma­tie Konflik­te regelt und nicht Waffen».

120.000 Wehrpflich­ti­ge eingezogen

Neben der Mobili­sie­rung von Reser­vis­ten hat Russland auch mit der Einbe­ru­fung von Rekru­ten für den gewöhn­li­chen Wehrdienst begon­nen, die einmal pro Halbjahr üblich ist. Diesmal wurden 120 000 Wehrpflich­ti­ge einge­zo­gen. «Die zum Wehrdienst einbe­ru­fe­nen Bürger werden nicht zur Teilnah­me an der militä­ri­schen Spezi­al­ope­ra­ti­on in der Ukrai­ne heran­ge­zo­gen», versi­cher­te General­stabs-Vertre­ter Wladi­mir Zimljan­ski. Der Kreml folgt weiter beharr­lich seiner Linie, den Krieg offizi­ell als «militä­ri­sche Spezi­al­ope­ra­ti­on» zu bezeich­nen. Zimljan­ski zufol­ge werden auch die Wehrpflich­ti­gen, deren Dienst­zeit nun endet, entlas­sen und an ihren Heimat­ort geschickt. In Russland dauert der regulä­re Wehrdienst ein Jahr.

Das wird am Freitag wichtig

In den ukrai­ni­schen Regio­nen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja laufen am Freitag die erzwun­ge­nen Abstim­mun­gen über einen Beitritt zu Russland an. Sie sollen bis Diens­tag abgeschlos­sen sein. Aller­dings werden dabei grund­le­gen­de demokra­ti­sche Prinzi­pi­en missach­tet und auch keine unabhän­gi­ge inter­na­tio­na­len Beobach­ter als Kontroll­in­stanz zugegen sein.