KIEW (dpa) — Weil Russland gezielt die ukrai­ni­sche Infra­struk­tur zerstört, muss im Land großfläch­tig der Strom abgeschal­tet werden. Bundes­prä­si­dent Stein­mei­er sagt kurzfris­tig eine Ukrai­ne-Reise ab. News im Überblick.

Die massi­ven Schäden an ihren Energie­net­zen zwingen die Ukrai­ne heute zu landes­wei­ten Strom­ab­schal­tun­gen. Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj rief die Bürger seines kriegs­ge­plag­ten Landes zu Mithil­fe auf.

«Wir werden alles tun, um die norma­le Energie­ver­sor­gung unseres Landes wieder­her­zu­stel­len», sagte er in seiner Video­an­spra­che gestern Abend. «Aber es braucht Zeit und unsere gemein­sa­men Anstren­gun­gen mit Ihnen.» Nach jüngs­ten Angaben der Regie­rung in Kiew haben die russi­schen Raketen- und Drohnen­an­grif­fe in den vergan­ge­nen Tagen 40 Prozent der Energie-Infra­struk­tur beschädigt.

Selen­skyj ging auch auf die Verhän­gung des Kriegs­rechts in den russisch besetz­ten Gebie­ten der Ukrai­ne durch Präsi­dent Wladi­mir Putin ein. Es sei ein Zeichen der Hyste­rie angesichts der drohen­den russi­schen Nieder­la­ge. Der ukrai­ni­sche Staats­chef rief die Männer in den besetz­ten Gebie­ten auf, sich nicht in die russi­sche Armee einzie­hen zu lassen.

Die russi­sche Besat­zungs­macht im Gebiet Cherson setzte Anstren­gun­gen fort, die ukrai­ni­sche Zivil­be­völ­ke­rung auf sicher von Moskau beherrsch­tes Terri­to­ri­um auszu­sie­deln. Für die Ukrai­ne ist heute der 239. Kriegs­tag seit Beginn der russi­schen Invasi­on. Eigent­lich wäre an diesem Tag Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­er in Kiew erwar­tet worden. Aus Sicher­heits­grün­den wurde die Reise aber kurzfris­tig verschoben.

Ein Tag fast ohne Elektri­zi­tät für die Ukrainer

Die Ukrai­ne mache Fortschrit­te bei der Abwehr der russi­schen Drohnen irani­scher Bauart, sagte Selen­skyj. Allein im Oktober seien 233 Drohnen des Typs Schahed-136 abgeschos­sen worden. Leider seien aber auch gestern drei Objek­te der Energie­ver­sor­gung zerstört worden.

Selen­skyj beriet mit seiner Regie­rung darüber, wie Ausfäl­le der beschä­dig­ten Netze im Winter vermie­den werden können. Es werde daran gearbei­tet, für die kriti­sche Infra­struk­tur in Großstäd­ten, Städten und Dörfern mobile Strom­quel­len zur Verfü­gung zu stellen, sagte er.

Die Bevöl­ke­rung wurde aufge­for­dert, heute zwischen 7.00 und 22.00 Uhr Ortszeit (6.00 bis 21.00 Uhr MESZ) möglichst wenig Strom zu verbrau­chen. Außer­dem werde zeitlich gestaf­felt in jedem Gebiet der Strom bis zu vier Stunden lang abgeschal­tet, teilte der Versor­ger Ukren­er­ho mit. Grund für die Einschrän­kun­gen sei Strom­man­gel im System. «Wir schlie­ßen nicht aus, dass wir mit dem Einset­zen der Kälte öfter um Ihre Hilfe bitten werden», hieß es.

«Bitte schal­ten Sie keine unnöti­gen Elektro­ge­rä­te ein!», bat auch Selen­skyj. Umso kürzer werde die Zeit der Abschal­tun­gen zur Netzsta­bi­li­sie­rung sein.

Selen­skyj an Ukrai­ner: Lasst Euch nicht von Russland rekrutieren!

«Die Hyste­rie wird umso größer, je näher die Nieder­la­ge Russlands rückt», kommen­tier­te Selen­skyj die Verhän­gung des Kriegs­zu­stan­des über die Gebie­te Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Diese werden von Russland völker­rechts­wid­rig für sich reklamiert.

«Russland hat ein halbes Jahr lang das Wort Krieg vermie­den, sein eigenes Volk dafür bestraft, und jetzt erklärt es selbst das Kriegs­recht in den besetz­ten Gebie­ten», sagte Selen­skyj. In Russland heißt der fast acht Monate dauern­de Krieg offizi­ell militä­ri­sche Spezialoperation.

Mit der Verschär­fung wächst die Gefahr, dass Russland Ukrai­ner zum Kampf gegen die eigenen Lands­leu­te zwingt. «Vermei­den Sie das, wenn es irgend möglich ist!», sagte Selen­skyj. Wer diese Gebie­te verlas­sen könne, solle das tun. Wer einge­zo­gen sei, solle die Waffen strecken und versu­chen, zu den Ukrai­nern zu deser­tie­ren. «Das Wichtigs­te: Retten Sie ihr Leben, und helfen Sie unbedingt auch anderen!»

Russi­sche Besat­zer siedeln Ukrai­ner aus Cherson aus

Im Gebiet Cherson fürch­tet die russi­sche Besat­zungs­macht einen massi­ven ukrai­ni­schen Angriff. Sie siedel­te deshalb nach eigenen Angaben bereits 7000 Zivilis­ten aus der Region rechts des Flusses Dnipro aus, wie Verwal­tungs­chef Wladi­mir Saldo sagte. Die ukrai­ni­sche Armee hat aber die Brücken über den Fluss unpas­sier­bar gemacht.

Die Besat­zungs­ver­wal­tung rief die Menschen auf, sich am Hafen von Cherson einzu­fin­den. Von dort verkehr­ten tagsüber kleine Dampfer ans linke Ufer. «Jede Person darf 50 Kilo Gepäck mitfüh­ren», hieß es in der Infor­ma­ti­on. «Tiere dürfen mitge­nom­men werden.»

Ein anderer Sprecher der Besat­zer in Cherson, Kirill Stremoussow, sagte, alle ukrai­ni­schen Angrif­fe gestern seien abgewehrt worden. Von ukrai­ni­scher Seite gibt es seit Tagen keine Angaben zu der angeb­li­chen Großoffensive.

Stein­mei­er fährt auch im zweiten Anlauf nicht nach Kiew

Für die Verschie­bung der Reise Stein­mei­ers nach Kiew waren nach Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur Sicher­heits­grün­de ausschlag­ge­bend. Der Bundes­prä­si­dent wollte sich heute in Kiew mit Selen­skyj treffen. Die offizi­ell nicht angekün­dig­te Reise solle rasch nachge­holt werden, hieß es.

«Wir sind in engen und vertrau­li­chen Planun­gen eines Besuches des Bundes­prä­si­den­ten in der Ukrai­ne, der beiden Seiten wichtig ist.» Das schrie­ben Stein­mei­ers Spreche­rin Cerstin Gammel­in und der künfti­ge ukrai­ni­sche Botschaf­ter in Berlin, Oleksii Makeiev, wortgleich auf Twitter. Für heute sei ein Telefo­nat der Präsi­den­ten verabredet.

Im April hatte Kiew einen Besuch Stein­mei­ers abgesagt — angeb­lich aus Ärger über dessen russland-freund­li­che Haltung. Dies sorgte in der Anfangs­pha­se des Krieges für Verstim­mung in Berlin.

Das wird heute wichtig

Die Staats- und Regie­rungs­chefs der Europäi­schen Union suchen bei einem Gipfel in Brüssel nach einem Ausweg aus der Energie­kri­se. Selen­skyj soll per Video zugeschal­tet werden. Er hat angekün­digt, den aktuel­len Strom­man­gel seines Landes anzuspre­chen. Die Ukrai­ne hofft, dass die auslän­di­schen Partner ihr Genera­to­ren überlassen.