KIEW (dpa) — Russland behaup­tet, die Ukrai­ne wolle eine schmut­zi­ge Bombe zünden — Kiew demen­tiert. «Wenn jemand in unserem Teil Europas Atomwaf­fen einset­zen kann, dann ist das nur einer», sagt Selen­skyj. Der Überblick.

Die Ukrai­ne hat Moskau­er Unter­stel­lun­gen scharf zurück­ge­wie­sen, sie berei­te den Einsatz einer sogenann­ten schmut­zi­gen, nukle­ar verseuch­ten Bombe vor. Die Behaup­tung lege den Verdacht nahe, dass Moskau selber etwas Schmut­zi­ges vorha­be, sagte der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj. Er rief die Weltge­mein­schaft zu entschie­de­nem Wider­stand gegen eine Eskala­ti­on des genau acht Monate alten Krieges durch Russland auf.

Voran­ge­gan­gen waren Telefo­na­te des russi­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­ters Sergej Schoi­gu mit den Minis­tern der Nato-Staaten Großbri­tan­ni­en, Frank­reich und der Türkei. Darin hatte er am Sonntag behaup­tet, die Ukrai­ne wolle eine mit Atomma­te­ri­al verseuch­te konven­tio­nel­le Bombe werfen, um dies Russland in die Schuhe zu schie­ben. Der briti­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Ben Wallace und US-Außen­mi­nis­ter Antony Blinken erklär­ten dies für unglaubwürdig.

Ungewöhn­lich war, dass Schoi­gu und US-Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Lloyd Austin am Sonntag zum zweiten Mal in drei Tagen mitein­an­der telefo­nier­ten. Nach Penta­gon-Angaben nahmen Austin und Wallace nach den Anrufen Schoi­gus auch unter­ein­an­der Kontakt auf. Exper­ten schlos­sen nicht aus, dass Moskau wegen militä­ri­scher Misserfol­ge selbst den Einsatz eines solchen Spreng­sat­zes erwägen könnte.

Am Montag ist der 24. Febru­ar und damit der Einmarsch Russlands in das Nachbar­land genau acht Monate her. Für die Ukrai­ne ist es der 243. Tag im Abwehr­kampf. In Berlin soll am Montag eine Wieder­auf­bau-Konfe­renz für die Ukrai­ne mit Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) und dem Kiewer Minis­ter­prä­si­den­ten Denys Schmyhal stattfinden.

Selen­skyj: Russland hinter­lässt zerstör­tes Land

«Wenn jemand in unserem Teil Europas Atomwaf­fen einset­zen kann, dann ist das nur einer — und dieser eine hat dem Genos­sen Schoi­gu befoh­len, dort anzuru­fen», sagte Selen­skyj unter Anspie­lung auf Russlands Staats­chef Wladi­mir Putin. Die Welt müsse klarstel­len, dass sie nicht bereit sei, diesen «Schmutz» zu schlucken.

«Wohin Russland auch geht, es hinter­lässt Massen­grä­ber, Folter­la­ger, zerstör­te Städte und Dörfer, vermin­tes Land, zerstör­te Infra­struk­tur und Natur­ka­ta­stro­phen», sagte der Präsi­dent. Die Ukrai­ne versu­che dagegen, ihren Menschen wieder ein norma­les Leben zu ermög­li­chen. «Wo die Ukrai­ne ist, wird kein Leben zerstört.»

«Die russi­schen Lügen über angeb­li­che Pläne der Ukrai­ne, eine «schmut­zi­ge Bombe» zu nutzen, sind so absurd, wie sie gefähr­lich sind», schrieb Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba auf Twitter. Die Ukrai­ne stehe treu zum Atomwaf­fen­sperr­ver­trag. «Die Russen beschul­di­gen andere oft dessen, was sie selber planen.» Kuleba schloss sich nach eigenen Angaben mit US-Außen­mi­nis­ter Antony Blinken kurz.

Exper­ten schlie­ßen Eskala­ti­on nicht aus

Strate­gi­sche Stabi­li­tät brauche ein Minimum an Vertrau­en und verläss­li­cher Kommu­ni­ka­ti­on, schrieb der Abrüs­tungs­exper­te Jean-Marie Guéhen­no auf Twitter. «Wenn der russi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter seine Kolle­gen glatt anlügt, ist das unver­ant­wort­lich und gefährlich.»

Russland könne das ukrai­ni­sche Militär nicht stoppen und wende sich deshalb an die Staaten, die Einfluss auf die Ukrai­ne hätten, schrieb der Moskau­er Polito­lo­ge Wladi­mir Frolow auf Twitter. Angesichts der ukrai­ni­schen Erfol­ge in Cherson und der westli­chen Unter­stüt­zung für Kiew könnte Moskau versucht sein, «etwas zu tun», meinte der Exper­te Alexan­der Gabuev von der US-Denkfa­brik Carne­gie. Putin werde eine Nieder­la­ge nicht hinneh­men. Die eng getak­te­ten Gesprä­che zwischen Austin und Schoi­gu nach fünf Monaten Funkstil­le erreg­ten Besorgnis.

Weniger drama­tisch schätz­te das US-ameri­ka­ni­sche Insti­tut für Kriegs­stu­di­en ISW die Lage ein: Schoi­gus Äußerun­gen berei­te­ten keine russi­sche Opera­ti­on unter falscher Flagge vor, sie sollten die Nato-Länder einschüch­tern und von der Hilfe für Kiew abhalten.

US-Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Austin teilte mit, er habe jeden Vorwand für eine Eskala­ti­on zurück­ge­wie­sen. Kommu­ni­ka­ti­on sei aber wertvoll gerade angesichts des «illega­len und durch nichts gerecht­fer­tig­ten Krieges Russlands gegen die Ukraine».

Ukrai­ner reparie­ren mühsam ihre Stromnetze

Nach den schwe­ren Zerstö­run­gen am ukrai­ni­schen Strom­netz durch russi­schen Beschuss vom Samstag machen die Repara­tur­ar­bei­ten nach Selen­sky­js Angaben Fortschrit­te. Es sei aber eine langwie­ri­ge und kompli­zier­te Arbeit. Er forder­te die Bürger weiter zum Strom­spa­ren auf. Seit Samstag seien 1,5 Millio­nen Haushal­te wieder mit Strom versorgt worden, teilte der Versor­ger Ukren­er­ho mit.

Nach Regie­rungs­an­ga­ben hat die Ukrai­ne durch den Krieg etwa 90 Prozent ihrer Windkraft-Kapazi­tä­ten verlo­ren. Bei Solar­ener­gie betra­ge der Verlust 40 bis 50 Prozent, sagte Energie­mi­nis­ter Herman Haluscht­schen­ko. Vor dem Krieg habe der Anteil erneu­er­ba­rer Energien an der Produk­ti­on bei zehn bis elf Prozent gelegen. Nach dem Krieg solle der Ausbau umso schnel­ler fortge­setzt werden.

Getrei­de­ex­por­te der Ukrai­ne laufen langsam

Am Sonntag habe zum sechs­ten Mal ein von den UN gechar­te­ter Frach­ter mit Getrei­de einen ukrai­ni­schen Hafen verlas­sen «direkt in den Jemen mit Weizen», sagte Selen­skyj. Seit Anfang August seien auf 380 Schif­fen 8,5 Millio­nen Tonnen Getrei­de aus der Ukrai­ne nach Afrika, Asien und Europa expor­tiert worden, teilte das Minis­te­ri­um für Infra­struk­tur mit. Aller­dings seien die ukrai­ni­schen Häfen nur gut zu einem Viertel ausge­las­tet, weil Russland bremse. Unter Vermitt­lung der UN und der Türkei hatten Moskau und Kiew die Expor­te verein­bart. Aller­dings droht Russland damit, das Programm nicht zu verlängern.

Das wird am Montag wichtig

Bundes­kanz­ler Scholz sieht im Wieder­auf­bau der Ukrai­ne nach dem Krieg eine jahrzehn­te­lan­ge Aufga­be der Weltge­mein­schaft. Am Montag eröff­net er mit Regie­rungs­chef Schmyhal aus Kiew dazu ein deutsch-ukrai­ni­sches Wirtschafts­fo­rum. Für Diens­tag hat der Kanzler als derzei­ti­ger Präsi­dent der G7-Runde führen­der demokra­ti­scher Wirtschafts­mäch­te mit EU-Kommis­si­ons­prä­si­den­tin Ursula von der Leyen zu einer inter­na­tio­na­len Exper­ten­kon­fe­renz zu diesem Thema geladen.

Der neue ukrai­ni­sche Botschaf­ter Oleksii Makeiev tritt am Montag in Berlin sein Amt an.