Nach dem angekün­dig­ten russi­schen Truppen­ab­zug aus dem südukrai­ni­schen Cherson rückt die Ukrai­ne weiter vor. In geräum­ten Gebie­ten wurden zwölf Ortschaf­ten zurück­er­obert, wie der Oberkom­man­die­ren­de der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te, Walerij Saluschnyj, am Donners­tag im Nachrich­ten­dienst Telegram mitteil­te. Moskau erschwert der Ukrai­ne den Vormarsch nach Einschät­zung briti­scher Geheim­diens­te aber weiter — so hätten russi­sche Truppen etwa Brücken zerstört und mutmaß­lich Minen gelegt.

Man erwar­te zudem, dass sich der Rückzug über mehre­re Tage hinzie­he, hieß es im tägli­chen Kurzbe­richt des briti­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums. Beglei­tet werde dieser voraus­sicht­lich von Artil­le­rie­feu­er zum Schutz der abzie­hen­den Einheiten.

Unter dem Druck der ukrai­ni­schen Gegen­of­fen­si­ve hatte Russland am Mittwoch den Abzug seines Militärs aus Cherson und der gesam­ten Region um die Stadt angeord­net. Moskau nannte den Abzug eine «militä­ri­sche Notwen­dig­keit» und «Umgrup­pie­rung der Kräfte». Unter­des­sen bestä­tig­te der Kreml, dass Präsi­dent Wladi­mir Putin nicht am G20-Gipfel kommen­de Woche auf Bali teilneh­men wird. Dort wird der russi­sche Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne zentra­les Thema sein.

Medien: Russen verwüs­ten Cherson bei Abzug

Laut Medien­be­rich­ten verwüs­te­ten die russi­schen Truppen bei ihrem Abzug aus Cherson die südukrai­ni­sche Stadt. Neben dem Fernseh­zen­trum seien unter anderem Fernhei­zungs­an­la­gen und Funkmas­ten gesprengt worden, berich­te­te die «Ukrajins­ka Prawda». Zudem sei in der Stadt der Strom komplett ausge­fal­len, ebenso wie das Inter­net. Bereits in den vergan­ge­nen Tagen waren mehre­re Brücken über den Dnipro gesprengt worden. Nach einem Bericht der russi­schen Agentur Tass sollen Einhei­ten der Polizei und Rettungs­diens­te die Stadt erst mit den letzten Truppen verlassen.

Die ukrai­ni­sche Staats­agen­tur Unian veröf­fent­lich­te eine Repor­ta­ge mit Fotos aus Dörfern an der Randzo­ne des Cherson-Gebiets, die von nachrü­cken­den ukrai­ni­schen Truppen befreit worden waren. «Zerstör­te Häuser, Minen und Müll» seien überall zu sehen.

Nato äußert sich zurück­hal­tend zu Rückzug Russlands

Nato-General­se­kre­tär Jens Stolten­berg äußer­te sich zur Situa­ti­on in Cherson zunächst zurück­hal­tend: «Wir müssen jetzt sehen, wie sich die Lage vor Ort in den nächs­ten Tagen entwi­ckelt», sagte er am Rande von Gesprä­chen mit der neuen italie­ni­schen Regie­rungs­chefin Giorgia Meloni in Rom. Klar sei aber, dass Russland schwer unter Druck stehe. «Wenn sie Cherson verlas­sen, wäre das ein weite­rer großer Erfolg für die Ukraine.»

Russland hatte das Nachbar­land Ukrai­ne am 24. Febru­ar überfal­len. Seitdem mussten die russi­schen Truppen bereits mehrfach größe­re militä­ri­sche Nieder­la­gen einste­cken. Als eines der aus Kreml-Sicht größten Debakel gilt der Rückzug aus dem ostukrai­ni­schen Gebiet Charkiw Mitte Septem­ber. Russland hatte das Gebiet Cherson in den ersten Kriegs­wo­chen weitge­hend besetzt und im Septem­ber — ebenso wie die Regio­nen Saporischschja, Luhansk und Donezk — annek­tiert. Inter­na­tio­nal wird die russi­sche Einver­lei­bung Chersons nicht anerkannt und als ein Bruch des Völker­rechts gewertet.

Mit Cherson gibt die russi­sche Armee nun eine Fläche von etwa 4800 Quadrat­ki­lo­me­tern auf. Der Verlust der Region werde Russland wahrschein­lich sein strate­gi­sches Ziel verweh­ren, eine russi­sche Landbrü­cke bis zur Hafen­stadt Odessa aufzu­bau­en, so die briti­schen Geheim­diens­te. Ukrai­ni­sche Angrif­fe auf die Nachschub­rou­ten der Russen hätten deren Positi­on in Cherson unhalt­bar gemacht.

Selen­skyj und Sunak: Rückzug Zeichen der Schwäche

Der briti­sche Premier Rishi Sunak und der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj seien sich einig, dass man Vorsicht walten lassen müsse, bis über der Stadt Cherson tatsäch­lich wieder die ukrai­ni­sche Flagge gehisst sei, hieß es nach einem Telefo­nat der beiden aus der Downing Street. Der Rückzug sei ein Zeichen der Schwä­che der russi­schen Offen­si­ve und demons­trie­re den starken Fortschritt der ukrai­ni­schen Truppen.

Sunak habe außer­dem bestä­tigt, dass London der Ukrai­ne weite­re militä­ri­sche Unter­stüt­zung zukom­men lassen wolle, darun­ter 1000 zusätz­li­che Boden-Luft-Raketen und militä­ri­sche Spezi­al­aus­rüs­tung für den Winter.

USA: 100.000 russi­sche Solda­ten getötet oder verwundet

Russland hat nach Einschät­zung des US-Militärs im Krieg gegen die Ukrai­ne bislang weit mehr als 100 000 getöte­te oder verwun­de­te Solda­ten zu bekla­gen. Das Gleiche gelte wahrschein­lich für die ukrai­ni­sche Seite, sagte US-General­stabs­chef Mark Milley laut Medien­be­rich­ten am Mittwoch­abend (Ortszeit) in einer Rede in New York. Zudem seien rund 40 000 ukrai­ni­sche Zivilis­ten ums Leben gekom­men. Unabhän­gig überprü­fen lassen sich diese Zahlen nicht.

USA stellen weite­re Militär­hil­fen bereit

Die USA stellen der Ukrai­ne weite­re Militär­hil­fen im Wert von 400 Millio­nen US-Dollar zur Verfü­gung. Das kündig­te das US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in Washing­ton an. Die militä­ri­sche Unter­stüt­zung für Kiew aus den USA belau­fe sich damit auf insge­samt 19,3 Milli­ar­den Dollar seit Beginn der Amtszeit von US-Präsi­dent Joe Biden Anfang 2021. Nach Penta­gon-Angaben wurde der Großteil an Waffen und Ausrüs­tung — im Umfang von 18,6 Milli­ar­den Dollar — seit dem russi­schen Einmarsch Ende Febru­ar zugesagt.

Zu dem neuen Paket gehör­ten auch vier Avenger-Luftab­wehr­sys­te­me und Stinger-Raketen sowie Raketen für Hawk-Luftab­wehr­sys­te­me, sagte die Vize-Spreche­rin des Penta­gons, Sabri­na Singh. Angesichts der unabläs­si­gen und bruta­len Luftan­grif­fe Russlands auf kriti­sche Infra­struk­tur der Ukrai­ne seien zusätz­li­che Luftver­tei­di­gungs­ka­pa­zi­tä­ten von entschei­den­der Bedeu­tung. Die Avenger-Luftab­wehr­sys­te­me würden die bisher bereit­ge­stell­ten Syste­me ergän­zen und entsprä­chen dem Bedarf, den die Ukrai­ne gemel­det habe.

Putin nimmt nicht an G20-Gipfel teil

Der Kreml bestä­tig­te, dass Putin am G20-Gipfel kommen­de Woche auf Bali nicht teilneh­men wird. Statt­des­sen werde Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow zu dem Treffen der 20 großen Indus­trie­na­tio­nen auf der indone­si­schen Insel reisen, sagte Kreml­spre­cher Dmitri Peskow der russi­schen staat­li­chen Nachrich­ten­agen­tur Tass. Peskow bestä­tig­te damit Angaben der indone­si­schen Seite.

Schlech­te Armee-Ausrüs­tung? Putin will Ausga­ben kontrollieren

Immer wieder gibt es Berich­te über mangel­haf­te Ausrüs­tung russi­scher Solda­ten — nun will Putin die Armee­aus­ga­ben stärker kontrol­lie­ren. Bis Freitag müsse die Regie­rung Vorschlä­ge für eine besse­re Ausga­ben­kon­trol­le und den zielge­rich­te­ten Einsatz der Haushalts­mit­tel für die «militä­ri­sche Spezi­al­ope­ra­ti­on» in der Ukrai­ne vorle­gen, hieß es in einer vom Kreml veröf­fent­lich­ten Aufgabenliste.

In russi­schen unabhän­gi­gen Medien finden sich zahlrei­che Berich­te von einbe­ru­fe­nen Rekru­ten, die über schlech­te und fehlen­de Ausrüs­tung klagen. Auch Politi­ker und Gouver­neu­re hatten sich entsetzt über die Ausrüs­tung der Armee geäußert.

EU-Plan soll schnel­le­re Truppen­ver­le­gung ermöglichen

Die EU-Kommis­si­on will die Voraus­set­zun­gen für eine schnel­le­re grenz­über­schrei­ten­de Verle­gung von Truppen und Materi­al schaf­fen. Ein in Brüssel vorge­stell­ter Aktions­plan sieht vor, das derzei­ti­ge militä­ri­sche Trans­port­netz­werk umfas­send zu überprü­fen und Verwal­tungs­ver­fah­ren für die Streit­kräf­te­log­is­tik durch Digita­li­sie­rung zu beschleunigen.

Zudem will die EU-Behör­de dabei helfen, Lücken im Bereich des Luft- und Seetrans­ports zu schlie­ßen. Dies gilt als entschei­dend dafür, dass die EU im Ernst­fall schnell handlungs­fä­hig ist.