KIEW (dpa) — Der ukrai­ni­sche Präsi­dent wirft Moskau Angst vor der Wahrheit vor. Die Militärs in Kiew rechnen mit einem baldi­gen Losschla­gen der russi­schen Armee im Osten des Landes. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj ist mit der russi­schen Politik der Tatsa­chen­leug­nung hart ins Gericht gegangen.

Sein stell­ver­tre­ten­der Wirtschafts­mi­nis­ter sieht unter­des­sen ganz andere harte Tatsa­chen und schätzt die bishe­ri­gen Schäden durch die russi­schen Militärs im Land auf mindes­tens eine Billi­on Dollar. Die Summe könnte noch steigen, denn die russi­sche Armee arbei­tet nach dem Dafür­hal­ten Kiews immer noch am «Minimal­ziel Ostukrai­ne». Öster­reichs Kanzler Karl Neham­mer will sich derweil als Brücken­bau­er zwischen Kiew und Moskau versu­chen und reist in den Kreml.

Während die Ukrai­ne bemüht sei, «jeden Bastard, der unter russi­scher Flagge in unser Land gekom­men ist und unsere Leute getötet hat», zur Rechen­schaft zu bringen, versu­che Russland, sich aus der Verant­wor­tung zu stehlen, sagte Selen­skyj in seiner Video­an­spra­che. «Was macht Russland? Was tun seine Beamten, seine Propa­gan­dis­ten und die einfa­chen Leute, die nur wieder­ho­len, was sie im Fernse­hen gehört haben», verwies Selen­skyj auf die selek­ti­ve Wahrheits­fin­dung der staat­lich kontrol­lier­ten russi­schen Medien. «Sie recht­fer­ti­gen sich und demen­tie­ren. Sie weisen jede Verant­wor­tung von sich. Sie lügen», sagte Selen­skyj weiter.

Selen­skyj: Russland kann Fehler nicht zugeben

Moskau hat zudem nach Meinung Selen­sky­js nicht den Mut, seine fehlge­lei­te­te Politik in Bezug auf den Nachbarn einzu­ge­ste­hen. «Sie haben Angst davor, zuzuge­ben, dass sie über Jahrzehn­te falsche Positio­nen bezogen und kolos­sa­le Ressour­cen ausge­ge­ben haben, um mensch­li­che Nullen zu unter­stüt­zen, die sie als künfti­ge Helden der ukrai­nisch-russi­schen Freund­schaft aufbau­en wollten.»

Der Versuch Moskaus, eigene Leute in der Ukrai­ne aufzu­bau­en, habe nicht funktio­niert. Denn diese Perso­nen «waren nur darin geübt, Geld aus Russland in die eigenen Taschen zu stopfen». Und um diese Fehler zu vertu­schen, wurden neue Fehler gemacht. Doch damit habe sich Russland selbst aller politi­schen Instru­men­te beraubt und schließ­lich diesen Krieg begonnen.

Zudem versu­che Russland, die Schuld für alles auf die Ukrai­ne abzuschie­ben. «Sie haben sich die Krim geschnappt, daran sind wir angeb­lich Schuld» sagte Selen­skyj. «Sie haben jedes norma­le Leben im Donbass vernich­tet, daran sind wir angeb­lich Schuld. Sie haben acht Jahr lang Menschen in unserem Land getötet, daran sind angeb­lich wir Schuld.» Das gelte auch für die Zerschla­gung der stärks­ten Wirtschafts­re­gi­on in Osteu­ro­pa sowie für die Zerstö­rung des Lebens von Millio­nen Menschen. «Und schließ­lich haben sie einen groß angeleg­ten Krieg gegen uns begon­nen, und wieder sind wir daran Schuld.» Und dies alles aus «reiner Feigheit», resümier­te Selenskyj.

«Und wenn die Feigheit zunimmt, dann verwan­delt sie sich in eine Katastro­phe», sagte der Staats­chef. «Wenn Menschen der Mut fehlt, Fehler zuzuge­ben, sich zu entschul­di­gen, sich der Reali­tät anzupas­sen, verwan­deln sie sich in Monster», sagte er in Anspie­lung an die Führung im Kreml. «Und wenn die Welt dies ignoriert, entschei­den die Monster, dass sich die Welt ihnen anpas­sen muss.» Dennoch werde der Tag kommen, an dem Russland die Wahrheit einge­ste­hen müsse.

Minis­ter schätzt Schäden auf eine Billi­on Dollar

Die Ukrai­ne hat nach Schät­zun­gen der Regie­rung durch die Invasi­on russi­scher Truppen bisher Schäden in Höhe von bis zu einer Billi­on US-Dollar erlit­ten. Das sagte der stell­ver­tre­ten­de Wirtschafts­mi­nis­ter Olexan­der Griban am Sonntag bei einer Regie­rungs­sit­zung, wie die Agentur Unian berich­te­te. Die Verlus­te seien schlicht «kolos­sal», die Aufstel­lung sei noch nicht vollstän­dig. «Es sind Milli­ar­den von Dollar an Schäden, mögli­cher­wei­se bis zu einer Trilli­on Dollar», sagte Griban, ohne seine Zahlen­an­ga­ben näher zu belegen.

Die ukrai­ni­sche Regie­rung stell­te am Sonntag erstmals Mittel für dringen­de Aufräum- und Repara­tur­ar­bei­ten in den von russi­scher Besat­zung befrei­ten Gebie­ten bereit. Minis­ter­prä­si­dent Denys Schmyhal nannte eine Summe von einer Milli­ar­de Hrywn­ja (31,2 Millio­nen Euro).

Weiter Angriff im Osten erwartet

«Die russi­sche Armee arbei­tet weiter an ihrem Minimal­plan Ostukrai­ne», sagte die stell­ver­tre­ten­de Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rin Hanna Maljar in der Nacht zum Montag, wie die Agentur Unian berich­te­te. Die Ukrai­ne setze unter­des­sen ihre eigenen Vorbe­rei­tun­gen mit der Fortset­zung der Mobil­ma­chung und der Ausbil­dung von Rekru­ten fort.

Der ukrai­ni­sche General­stab erwar­tet derweil in Kürze einen neuen Vorstoß der russi­schen Streit­kräf­te zur vollstän­di­gen Erobe­rung der Ostukrai­ne. Dazu würden aktuell neue Truppen aus anderen Landes­tei­len Russlands an die Grenzen heran­ge­führt. Die Schwer­punk­te der nächs­ten russi­schen Angrif­fe seien bei Charkiw und Slowjansk zu erwarten.

Zusam­men­stö­ße mit Russland auch in nächs­ten Jahren

Über den aktuel­len Krieg Russlands gegen die Ukrai­ne hinaus rechnet Selen­skys Berater Olexeij Aresto­wytsch mit weite­ren Zusam­men­stö­ßen der beiden Länder in den kommen­den Jahren. «Russland sucht eine neue Form des Imperi­ums, entwe­der mit Wladi­mir Putin oder mit Alexej Nawal­ny, so in 32 bis 35 Jahren werden wir mindes­tens noch zwei oder drei Runden mit Russland haben», sagte Aresto­wytsch nach Angaben der Agentur Unian. Ob größe­rer Krieg oder nur Grenz­schar­müt­zel — die Wahrschein­lich­keit neuer Zusam­men­stö­ße sah er bei 95 Prozent.

Selbst ein Macht­wech­sel im Kreml würde nach Meinung von Aresto­wytsch die Konfron­ta­ti­on mit der Ukrai­ne nicht beenden. «Da kann Einiges gesche­hen, es könnte sogar irgend­ein Libera­ler überneh­men», speku­lier­te Aresto­wytsch. «Dann gibt es eben eine Ausein­an­der­set­zung auf Ebene der Infor­ma­tio­nen, der Wirtschaft oder der Geheim­diens­te, auch militä­risch, wenn auch ohne direk­ten Krieg.» Dennoch bleibe es ein «schreck­li­cher Zivilisationskampf».

Del Ponte fordert Haftbe­fehl gegen Putin

Die frühe­re UN-Chefan­klä­ge­rin Carla Del Ponte hat ihre Forde­rung nach einem inter­na­tio­na­len Haftbe­fehl gegen Russlands Präsi­den­ten Wladi­mir Putin bekräf­tigt. Putin könne zwar erst vor den Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof gestellt werden, wenn er nicht mehr im Amt sei, doch die Justiz habe Geduld, sagte die Juris­tin im Schwei­zer Ort Ascona. «Es gibt keine Verjäh­rung für diese Verbre­chen. Und Putin wird nicht ewig Präsi­dent bleiben», sagte sie. Del Ponte war Chefan­klä­ge­rin des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs für das ehema­li­ge Jugosla­wi­en und des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs für Ruanda.

Das wird am Montag wichtig

Öster­reichs Bundes­kanz­ler Karl Neham­mer wird heute mit Russlands Präsi­dent Putin in Moskau zusam­men­tref­fen. Am Samstag war Neham­mer mit Selen­skyj in Kiew zusam­men­ge­kom­men. Neham­mer ist damit der erste westli­che Regie­rungs­chef, der seit Kriegs­be­ginn zu Putin in den Kreml reist.

Bei einem Treffen der EU-Außen­mi­nis­ter in Luxem­burg soll es unter anderem um mögli­che weite­re Sanktio­nen gegen Russland und die Finan­zie­rung zusätz­li­cher Waffen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne gehen.