KIEW (dpa) — Der Großteil von Luhansk ist nach ukrai­ni­schen Angaben bereits unter russi­scher Kontrol­le. In Kiewer Vorort Borod­jan­ka werden zwei weite­re Massen­grä­ber entdeckt. Entwick­lun­gen im Überblick.

Russi­sche Truppen stoßen in der Ukrai­ne weiter vor, die befürch­te­te Großof­fen­si­ve könnte jedoch erst noch bevor­ste­hen. In der Nacht zum Donners­tag gab es aus mehre­ren ukrai­ni­schen Städten Meldun­gen über russi­schen Beschuss.

Entlang der gesam­ten Front in den Gebie­ten Donezk, Luhansk und Charkiw griffen die Russen zwar seit Diens­tag an, sagte der Sekre­tär des ukrai­ni­schen Sicher­heits­rats, Olexij Danilow, in einem Radio-Inter­view. Es hande­le sich aber wahrschein­lich erst um «Probe­an­grif­fe».

Der Großteil von Luhansk ist aller­dings nach ukrai­ni­schen Angaben bereits unter russi­scher Kontrol­le. Auch das Stahl­werk Asows­tal in der umkämpf­ten Hafen­stadt Mariu­pol wird nach Einschät­zung des Anfüh­rers der russi­schen Teilre­pu­blik Tsche­tsche­ni­en noch heute an die Russen fallen.

Nach langem Bitten um mehr und schwe­re Waffen sieht der ukrai­ni­sche Präsi­dent nun mehr Verständ­nis bei Partner­län­dern. Sie verstün­den nun, welche Waffen die Ukrai­ne brauche und zwar möglichst jetzt, sagte Wolodym­yr Selen­skyj in seiner allabend­li­chen Video­bot­schaft. Auch Deutsch­land war lange Zöger­lich­keit vorge­wor­fen worden.

Letztes Ultima­tum für Menschen in Mariupol?

Russi­schen Angaben zufol­ge befin­den sich noch rund 2500 ukrai­ni­sche Kämpfer und auslän­di­sche Söldner im Stahl­werk Asows­tal. Ukrai­ni­schen Mittei­lun­gen zufol­ge sollen dort zudem rund 1000 Zivilis­ten Schutz gesucht haben.

«Heute vor oder nach dem Mittag­essen wird Asows­tal vollstän­dig unter Kontrol­le der russi­schen Streit­kräf­te sein», erklär­te der tsche­tsche­ni­sche Anfüh­rer Ramsan Kadyrow, dessen Einhei­ten in der Ukrai­ne kämpfen. Die in dem Stahl­werk verblie­be­nen ukrai­ni­schen Kämpfer hätten am Morgen noch die Möglich­keit, sich zu ergeben. Täten sie dies, sei er sicher, dass die russi­sche Führung «die richti­ge Entschei­dung» treffen werde.

Am Mittwoch­abend hatten zwei Vertre­ter der ukrai­ni­schen Delega­ti­on bei den Gesprä­chen mit Russland ihre Bereit­schaft erklärt, für Verhand­lun­gen über die Evaku­ie­rung der Kämpfer und Zivilis­ten aus dem Stahl­werk nach Mariu­pol zu kommen. Zuvor hatte der Komman­deur der verblie­be­nen Marine­infan­te­ris­ten um eine Evaku­ie­rung seiner Kämpfer in einen Dritt­staat gebeten. Eine Rettung von Zivilis­ten war am Mittwoch ukrai­ni­schen Angaben zufol­ge abermals gescheitert.

Luhansk weitge­hend unter russi­scher Kontrolle

Nach dem Abzug der ukrai­ni­schen Truppen aus der Klein­stadt Krimen­na kontrol­lier­ten russi­sche Einhei­ten nun 80 Prozent des Gebie­tes Luhansk, teilte der Gouver­neur der Region, Serhij Hajdaj, am Mittwoch­abend auf Telegram mit. «In Sjewjer­odo­nezk ist nicht ein einzi­ges heiles Provi­ant­la­ger übrig geblie­ben», erklär­te Hadjdaj am Donners­tag auf dem Facebook-Kanal der Gebiets­ver­wal­tung. Die Einwoh­ner könnten nur noch mit humani­tä­ren Hilfs­lie­fe­run­gen versorgt werden.

Auch die Städte Rubisch­ne und Popas­na in Luhansk seien mittler­wei­le «teilwei­se» unter russi­scher Kontrol­le. Um diese gibt es seit Wochen inten­si­ve Kämpfe. Der Beschuss habe auch hier zugenom­men. Zu Beginn des russi­schen Angriffs­krie­ges vor rund acht Wochen hatten die Separa­tis­ten der «Volks­re­pu­blik» Luhansk noch rund 30 Prozent der Region unter ihrer Kontrol­le gehabt.

Unklar­heit über Beginn der russi­schen Großoffensive

Ob mit den Kämpfen im Osten des Landes jedoch schon die erwar­te­te Großof­fen­si­ve der Russen begon­nen hat, ist unklar. Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj hatte zwar bereits am Montag­abend erklärt, dass «die Schlacht um den Donbass» begon­nen habe. Nach Einschät­zung des Sekre­tärs seines Sicher­heits­ra­tes ist das jedoch noch nicht der Fall. Es sei aber nur eine Frage der Zeit.

Am Diens­tag hatte auch das US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um erklärt, es sehe die jüngs­ten russi­schen Angrif­fe nur als Vorzei­chen einer größe­ren Offen­si­ve Moskaus. Der Sekre­tär des ukrai­ni­schen Sicher­heits­ra­tes warnte davor zu denken, die Kämpfe um den Donbass würden die letzte Schlacht sein. «Ich wäre nicht so optimis­tisch, es können jede Menge verschie­de­ne Dinge noch vor uns liegen», erklär­te Danilow.

Weite­re Massen­grä­ber vor Kiew

Unter­des­sen sind im Kiewer Vorort Borod­jan­ka nach ukrai­ni­schen Angaben zwei weite­re Massen­grä­ber entdeckt worden. Darin hätten sich insge­samt neun Leichen von Zivilis­ten, Männer wie Frauen, befun­den, teilte Andrij Nebitow von der Polizei der Haupt­stadt­re­gi­on in der Nacht zum Donners­tag auf Facebook mit. Einige von ihnen hätten Folter­spu­ren aufgewiesen.

Borod­jan­ka gehört zu den am stärks­ten zerstör­ten Städten in der Haupt­stadt­re­gi­on. Aus der Stadt wurden Gräuel­ta­ten der mittler­wei­le abgezo­ge­nen russi­schen Einhei­ten gemel­det. Die Angaben konnten nicht unabhän­gig geprüft werden.

Selen­skyj: Partner verste­hen Notwen­dig­keit an Waffen

Nach Tagen eindring­li­chen Bittens um mehr und schwe­re Waffen sieht Selen­skyj mehr Verständ­nis bei Partner­län­dern der Ukrai­ne aufkom­men. Er könne mit «vorsich­ti­gem Optimis­mus» sagen, dass die Partner Kiews «sich unserer Bedürf­nis­se bewuss­ter gewor­den sind», sagte Selenskyj.

Auch Deutsch­land, vor allem Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD), war tagelang Zöger­lich­keit bei der Liefe­rung schwe­rer Waffen vorge­wor­fen worden. Am Diens­tag­abend hatte Scholz dann die weite­re Strate­gie vorge­stellt: Demnach finan­ziert die Bundes­re­gie­rung direk­te Rüstungs­lie­fe­run­gen der Indus­trie an die Ukraine.

Seit Kriegs­be­ginn hat das Land von Deutsch­land gut 2500 Luftab­wehr­ra­ke­ten, 900 Panzer­fäus­te mit 3000 Schuss Muniti­on, 100 Maschi­nen­ge­weh­re und 15 Bunker­fäus­te mit 50 Raketen erhal­ten. Zudem 100.000 Handgra­na­ten, 2000 Minen, rund 5300 Spreng­la­dun­gen sowie mehr als 16 Millio­nen Schuss Muniti­on verschie­de­ner Kaliber für Handfeu­er­waf­fen, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus ukrai­ni­schen Regie­rungs­krei­sen. Nicht auf der Liste stehen schwe­re Waffen wie Panzer oder Artillerie.

Das wird am Donners­tag wichtig

US-Präsi­dent Joe Biden will sich zu Russland und der Ukrai­ne äußern. Derweil berät die deutsche Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock in Estland mit der politi­schen Führung des Balten-Staates über Konse­quen­zen aus dem russi­schen Angriffs­krieg gegen die Ukraine.

In Tallinn sind unter anderem Gesprä­che von Baerbock mit ihrer Kolle­gin Eva-Maria Liimets sowie ein Treffen mit Minis­ter­prä­si­den­tin Kaja Kallas geplant. In Washing­ton findet am selben Tag ein inter­na­tio­na­les Treffen zur Unter­stüt­zung der Ukrai­ne mit Teilnah­me von Weltbank-Chef David Malpass und IWF-Chefin Kristali­na Georgie­wa statt.