KIEW (dpa) – Die russi­schen Truppen stehen kurz vor der komplet­ten Übernah­me der Kontrol­le im ostukrai­ni­schen Gebiet Luhansk. Das ist ein wichti­ges Kriegs­ziel von Kreml­chef Putin. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Angesichts des Vormar­sches russi­scher Truppen im Osten seines Landes hat der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj der EU für das geplan­te neue Sankti­ons­pa­ket gedankt und zugleich neue Straf­maß­nah­men gefordert.

«Letzten Endes sollte es gar keine nennens­wer­ten wirtschaft­li­chen Verbin­dun­gen mehr zwischen der freien Welt und dem Terror­staat geben», sagte er in seiner nächt­li­chen Video­an­spra­che. «Wir werden an neuen Einschrän­kun­gen gegen Russland für diesen Krieg arbeiten.»

Dank des geplan­ten Öl-Boykotts der EU verlie­re Russland «Dutzen­de Milli­ar­den Euro», die nun nicht mehr für die Finan­zie­rung des Terrors genutzt werden könnten. Zugleich bekräf­tig­te Selen­skyj seine Forde­run­gen an den Westen nach Liefe­rung schwe­rer Waffen. Die US-Regie­rung kündig­te derweil an, im Rahmen eines neuen Sicher­heits­pa­kets moder­ne Mehrfach­ra­ke­ten­wer­fer zu liefern.

Selen­skyj: Mit schwe­ren Waffen besetz­te Gebie­te befreien

Sobald es diese schwe­ren Waffen gebe, solle die Armee mit der Befrei­ung der von Russland besetz­ten Gebie­te begin­nen. Die Ukrai­ne werde sich nicht beeilen mit der Zurück­er­obe­rung ihrer Terri­to­ri­en, wenn das Zehntau­sen­de von Opfern forde­re, sondern vielmehr auf die nötigen Waffen warten, sagte Selen­skyj in Kiew bei einem Treffen mit der slowa­ki­schen Präsi­den­tin Zuzana Caputova.

Er fordert vom Westen seit Wochen die Liefe­rung schwe­rer Waffen, um die russi­schen Angrif­fe im Osten des Ukrai­ne abzuweh­ren und die russi­schen Truppen zurückzudrängen.

Biden: USA liefern moder­ne Raketen­sys­te­me an die Ukraine

Die US-Regie­rung wird der Ukrai­ne nach Angaben von Präsi­dent Joe Biden moder­ne Raketen­sys­te­me liefern. Biden schrieb in einem Gastbei­trag für die «New York Times», damit solle das angegrif­fe­ne Land in der Lage versetzt werden, «wichti­ge Ziele auf dem Schlacht­feld in der Ukrai­ne» präzi­ser zu treffen. Biden versi­cher­te zugleich: «Wir wollen keinen Krieg zwischen der Nato und Russland.» Die USA versuch­ten auch nicht, den russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin zu stürzen.

Aus dem Weißen Haus hieß es am Diens­tag­abend (Ortszeit), die Ukrai­ne habe zugesi­chert, mit dem in den USA herge­stell­ten Artil­le­rie­sys­tem HIMARS keine Ziele auf russi­schem Terri­to­ri­um anzugrei­fen. Das System sei Teil eines Pakets im Wert von 700 Millio­nen Dollar (652 Millio­nen Euro), das daneben unter anderem Geschos­se, Radar­sys­te­me, Panzer­ab­wehr­waf­fen vom Typ Javelin, Hubschrau­ber, Fahrzeu­ge und Ersatz­tei­le beinhal­te. Ein hochran­gi­ger US-Regie­rungs­ver­tre­ter sagte, die USA würden mit dem HIMARS-System Geschos­se liefern, die nur eine Reich­wei­te von rund 80 Kilome­tern hätten.

Biden unter­strich, derzeit gebe es keine Anzei­chen dafür, dass Russland die Absicht habe, in der Ukrai­ne Atomwaf­fen einzu­set­zen. Die «gelegent­li­che Rheto­rik Russlands, mit dem nuklea­ren Säbel zu rasseln», sei an sich aber schon gefähr­lich und unverantwortlich.

Schwe­re Gefech­te in Sjewjerodonezk

In der ostukrai­ni­schen Region Luhansk stehen die russi­schen Truppen kurz davor, die letzte Basti­on der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te zu stürzen. Fällt die umkämpf­te Gebiets­haupt­stadt Sjewjer­odo­nezk, hätte Russland eines seines Kriegs­zie­le erreicht: die komplet­te Kontrol­le des Gebiets Luhansk. Von dort aus könnten die russi­schen Truppen und die moskau­treu­en Separa­tis­ten weiter nach Westen vorrü­cken, um im Gebiet Donezk die strate­gisch wichti­gen Städte Slowjansk und Krama­torsk einzunehmen.

Bei Gefech­ten in Sjewjer­odo­nezk kam es in einer Chemie­fa­brik für Salpe­ter­säu­re zu einem Zwischen­fall. Die ukrai­ni­schen Behör­den sprachen am Diens­tag von einem russi­schen Luftan­griff auf das Werk. Die prorus­si­schen Separa­tis­ten teilten dagegen mit, es sei dort zu einer Explo­si­on gekom­men. Auf Fotos, die der ukrai­ni­sche Gouver­neur des Gebie­tes Luhansk, Serhij Hajdaj, in seinem Nachrich­ten­ka­nal bei Telegram veröf­fent­lich­te, war eine große Rauch­wol­ke zu sehen.

Sjewjer­odo­nezk, das von ukrai­ni­schen Behör­den kontrol­lier­te Verwal­tungs­zen­trum im Gebiet Luhansk, ist seit Tagen umkämpft. Der Anfüh­rer der von Kreml­chef Wladi­mir Putin als Staat anerkann­ten Volks­re­pu­blik Luhansk, Leonid Passet­sch­nik, sagte, dass inzwi­schen zwei Drittel der Stadt unter Kontrol­le prorus­si­scher Kräfte seien.

Wider­stand gegen russi­sche Invasi­on dauert an

Der ukrai­ni­sche Gouver­neur Hajdaj sagte, der Großteil von Sjewjer­odo­nezk sei inzwi­schen unter russi­scher Kontrol­le. Trotz­dem gäben die ukrai­ni­schen Vertei­di­ger nicht auf. 90 Prozent der Gebäu­de in der Stadt seien beschä­digt, bei 60 Prozent lohne sich der Wieder­auf­bau nicht, sagte er. Von den einmal 100.000 Einwoh­nern sollen dort noch 12.000 geblie­ben sein.

Präsi­dent Selen­skyj zeigte sich kämpfe­risch. In seiner Video­an­spra­che sagte er zwar, dass die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te wegen des Mangels an Waffen in einer schwie­ri­gen Lage seien. Die Ukrai­ne werde sich aber ihre völker­recht­lich verbrief­ten Gebie­te zurückholen.

Was heute wichtig wird

Die EU-Staaten haben sich nach wochen­lan­gen Diskus­sio­nen bei einem Gipfel in Brüssel auf einen weitge­hen­den Boykott von Öllie­fe­run­gen aus Russland verstän­digt. Dies ist Teil des sechs­ten Sankti­ons­pa­kets, dessen weite­ren Details an diesem Mittwoch in Brüssel ausge­ar­bei­tet werden sollen.

Anschlie­ßend könnte das Paket förmlich beschlos­sen werden. Vorge­se­hen ist, die größte russi­sche Bank Sberbank aus dem Kommu­ni­ka­ti­ons­netz­werk Swift auszu­schlie­ßen. Zudem sollen der staat­li­che Fernseh-Nachrich­ten­sen­der Rossi­ja 24 sowie die Staats­sen­der RTR Plane­ta und TV Centre in der EU verbo­ten werden.

Der russi­sche Staats­kon­zern Gazprom stellt an diesem Mittwoch die Gaslie­fe­run­gen an den dänischen Versor­ger Ørsted sowie Shell Energy Europe ein. Auch Deutsch­land ist betrof­fen. Ørsted und Shell hätten Gazprom Export darüber infor­miert, die Rechnun­gen nicht — wie von Moskau gefor­dert — in Rubel zu bezahlen.

Weil für den Monat April kein Geld geflos­sen sei, würden nun die Liefe­run­gen einge­stellt. Shell habe erklärt, dass die Gaslie­fe­run­gen nach Deutsch­land nicht in der russi­schen Währung begli­chen würden, teilte Gazprom Export mit. Die maxima­le Liefer­men­ge pro Jahr gemäß dem Vertrag liege bei 1,2 Milli­ar­den Kubik­me­ter Gas.