KIEW/BRÜSSEL (dpa) — Ungarn verwei­gert Sanktio­nen gegen den russisch-ortho­do­xen Patri­ar­chen Kirill — und blockiert neue EU-Sanktio­nen. Ex-Kanzle­rin Merkel nennt den Ukrai­ne-Krieg eine «tiefgrei­fen­de Zäsur». Die Entwicklungen.

Das neue EU-Sankti­ons­pa­ket gegen Russland wegen des Angriffs­krie­ges auf die Ukrai­ne kann wegen eines weite­ren Einspruchs aus Ungarn nicht in Kraft treten.

Die Regie­rung in Budapest verlangt, die geplan­ten Straf­maß­nah­men gegen Patri­arch Kirill, das Oberhaupt der russisch-ortho­do­xen Kirche, zu strei­chen. Das bestä­tig­ten mehre­re Diplo­ma­ten in Brüssel der Deutschen Presse-Agentur. Der Ausweg aus dieser diplo­ma­ti­schen Blocka­de war am Donners­tag zunächst unklar.

Im Osten der Ukrai­ne setzten russi­sche Truppen unter­des­sen ihre schritt­wei­se Erobe­rung der Großstadt Sjejwer­odo­nezk fort. Das ukrai­ni­sche Militär berich­te­te dagegen von der Rückerobe­rung von 20 Ortschaf­ten im besetz­ten Gebiet Cherson im Süden. Die Ukrai­ne geht am Donners­tag in den 99. Tag des Krieges. Die Bundes­re­gie­rung sagte dem bedräng­ten Land nicht nur hochmo­der­ne Flugab­wehr­waf­fen zu. Kanzler Olaf Scholz (SPD) sagte auch, er setze auf eine schnel­le Liefe­rung durch die deutsche Rüstungsindustrie.

Ungarn blockiert Sanktio­nen wegen Kirchenführer

Patri­arch Kirill soll nach dem Willen der anderen EU-Staaten wegen seiner Unter­stüt­zung für den russi­schen Angriffs­krieg auf die Sankti­ons­lis­te kommen. Der 75-jähri­ge Kirchen­füh­rer pflegt engen Kontakt zu Präsi­dent Wladi­mir Putin. Er stell­te sich in seinen Predig­ten immer wieder hinter den Kriegs­kurs und behaup­te­te zuletzt, dass Russland noch nie ein anderes Land angegrif­fen habe.

Plan in Brüssel war eigent­lich, das Beschluss­ver­fah­ren für das sechs­te Sankti­ons­pa­ket am Mittwoch auf den Weg zu bringen. Zuvor war in der Nacht zum Diens­tag nach langem Streit eine Einigung im Streit über das geplan­te Öl-Embar­go erzielt worden. Ungarn setzte durch, dass Öllie­fe­run­gen per Pipeline zunächst ausge­nom­men werden.

Konkret würden Sanktio­nen gegen Kirill bedeu­ten, dass der Geist­li­che nicht mehr in die EU einrei­sen darf. Mögli­cher­wei­se vorhan­de­ne Vermö­gens­wer­te würden einge­fro­ren. Der ungari­sche Minis­ter­prä­si­dent Viktor Orban hatte aber schon Anfang Mai Beden­ken geäußert. «Ungarn wird seine Zustim­mung nicht dazu geben, dass man mit Kirchen­füh­rern auf eine solche Weise umgeht», sagte er. «Aus prinzi­pi­el­len Gründen ist das eine noch wichti­ge­re Angele­gen­heit als das Öl-Embargo.»

Russi­scher Vormarsch im Osten

Russi­sche Truppen haben nach briti­scher Einschät­zung den Großteil der umkämpf­ten ostukrai­ni­schen Großstadt Sjewjer­odo­nezk einge­nom­men. Unter­stützt von hefti­gen Artil­le­rie­an­grif­fen machten die Streit­kräf­te örtli­che Gelän­de­ge­win­ne, teilte das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in London mit. Sie erlit­ten aber Verlus­te. Die Haupt­stra­ße in die Stadt hinein werde vermut­lich noch von ukrai­ni­schen Einhei­ten gehal­ten, hieß es unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse.

Es gäbe mehre­re Stellen, an denen Russland erneut versu­chen könnte, den Fluss Siwer­ski Donez zu überque­ren, der eine natür­li­che Vertei­di­gungs­li­nie der ukrai­ni­schen Truppen darstellt. Hätten die russi­schen Streit­kräf­te dort Erfolg, könnten sie das Gebiet Luhansk sichern und sich stärker auf das angren­zen­de Gebiet Donezk konzen­trie­ren, beton­te das briti­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um. Das ukrai­ni­sche Militär gestand ein, dass russi­sche Truppen bei Gefech­ten in der umkämpf­ten ostukrai­ni­schen Großstadt Sjewjer­odo­nezk im Gebiet Luhansk «teilwei­se Erfolg» haben. Der Feind habe die Kontrol­le über den östli­chen Teil der Stadt, teilte der General­stab mit. Der Sturm auf die Großstadt dauere an, hieß es. Die prorus­si­schen Separa­tis­ten behaup­te­ten, sie hätten bereits mehr als 70 Prozent der Stadt unter ihre Kontrol­le gebracht.

Sjewjer­odo­nezk ist das Verwal­tungs­zen­trum in dem von der Ukrai­ne kontrol­lier­ten Teil des Gebiets Luhansk. Um die Stadt wird seit Wochen gekämpft. Sollten die russi­schen Truppen die Stadt einneh­men, hätten sie die komplet­te Kontrol­le über die Region Luhansk. Die Einnah­me der Gebie­te Luhansk und Donezk ist eins der von Putin ausge­ge­be­nen Ziele.

Die ukrai­ni­sche Armee erober­te nach Militär­an­ga­ben im Gebiet Cherson 20 besetz­te Ortschaf­ten zurück. Aus diesen Dörfern sei etwa die Hälfte der Bevöl­ke­rung geflüch­tet, hieß es. Unabhän­gig überprüf­bar waren die Angaben nicht. Es gibt aber seit Tagen Berich­te über Vorstö­ße der ukrai­ni­schen Armee im Süden. In Stryj in der Westukrai­ne schlu­gen Mittwoch­abend mutmaß­lich mehre­re russi­sche Raketen ein. Ersten Angaben nach wurden fünf Menschen verletzt.

Moder­ne Flugab­wehr aus Deutsch­land für die Ukraine

Bundes­kanz­ler Scholz hatte am Mittwoch im Bundes­tag die Liefe­rung des Flugab­wehr­sys­tems Iris‑T des deutschen Herstel­lers Diehl an die Ukrai­ne angekün­digt. Dazu kommt ein Ortungs­ra­dar, mit dem Artil­le­rie­stel­lun­gen aufge­spürt werden. Bei Letzte­rem dürfte es sich um das System Cobra handeln. Ein genau­es Liefer­da­tum nannte Scholz nicht. «Aber da ist jetzt kein Hinder­nis mehr.»

Nach Angaben aus Regie­rungs­krei­sen sollen zudem vier Mehrfach­ra­ke­ten­wer­fer Mars II aus Bestän­den der Bundes­wehr bis Ende Juni gelie­fert werden. Der ukrai­ni­sche Botschaf­ter Andrij Melnyk begrüß­te die Ankündigung.

Die frühe­re Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel nannte in ihrer ersten öffent­li­chen Rede seit rund einem halben Jahr den Angriff auf die Ukrai­ne eine «tiefgrei­fen­de Zäsur». Sie wolle keine Einschät­zun­gen von der Seiten­li­nie abgeben, sagte Merkel in Berlin. Doch markie­re Russlands Einmarsch in das Nachbar­land einen eklatan­ten Bruch des Völkerrechts.

«Meine Solida­ri­tät gilt der von Russland angegrif­fe­nen, überfal­le­nen Ukrai­ne und der Unter­stüt­zung ihres Rechts auf Selbst­ver­tei­di­gung.» Sie unter­stüt­ze Anstren­gun­gen der Bundes­re­gie­rung, der EU, der USA, der Nato, der G7 und der UN, «dass diesem barba­ri­schen Angriffs­krieg Russlands Einhalt geboten wird».

Polen und Ukrai­ne prüfen gemein­sa­me Rüstungsbetriebe

Polen sagte dem Nachbar­land bei einem Besuch von Minis­ter­prä­si­dent Mateusz Morawi­ecki in Kiew weite­re Hilfen zu. Sein Land sei auch gebeten worden, bei der Ausfuhr von ukrai­ni­schem Getrei­de zu helfen. Bei den Konsul­ta­tio­nen wurde nach Kiewer Angaben verein­bart, den Aufbau gemein­sa­mer Rüstungs­fir­men zu prüfen. Dies werde die Militär­zu­sam­men­ar­beit auf eine neue Ebene heben, sagte der ukrai­ni­sche Minis­ter­prä­si­dent Denys Schmyhal. Morawi­ecki und sein Vize Jaros­law Kaczyn­ski, der Vorsit­zen­de von Polens natio­nal­kon­ser­va­ti­ver Regie­rungs­par­tei PiS, sprachen auch mit Präsi­dent Wolodym­yr Selenskyj.

Das bringt der Tag

Während in Brüssel nach Wegen zur Überwin­dung des ungari­schen Vetos gesucht wird, wird in der slowa­ki­schen Haupt­stadt Bratis­la­va über die Sicher­heits­la­ge im Osten Europas gespro­chen. Zu den promi­nen­tes­ten Rednern beim Globsec Forum Bratis­la­va 2022 zählen gleich am ersten Tag EU-Kommis­si­ons­prä­si­den­tin Ursula von der Leyen und der per Video­kon­fe­renz zugeschal­te­te Selenskyj.