KIEW (dpa) — In der Ukrai­ne beginnt der 101. Kriegs­tag. Wann ist es Zeit, sich wieder an den Verhand­lungs­tisch zu setzen? Westli­che Staaten stellen erste Überle­gun­gen an. Die Entwick­lun­gen im Überblick:

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj hat 100 Tage nach dem russi­schen Einmarsch in sein Land den Glauben an den Sieg beschwo­ren. Es gebe drei Dinge, für die seine Lands­leu­te kämpf­ten: Frieden, Sieg, Ukrai­ne, sagte Selen­skyj in seiner Videoansprache.

Diese wurde unter freiem Himmel vor seinem Amtssitz in Kiew aufge­nom­men. Russlands Präsi­dent Wladi­mir Putin hatte am 24. Febru­ar den Angriff auf das Nachbar­land befoh­len. Der Samstag ist für die Ukrai­ne also der 101. Tag des Krieges.

Vertre­ter seines Landes würden sich erst wieder an den Verhand­lungs­tisch setzen, wenn ihre militä­ri­sche Positi­on stärker sei, sagte der ukrai­ni­sche Chefun­ter­händ­ler Dawyd Aracha­mi­ja. Eine Verhand­lungs­pau­se sei besser, solan­ge im Osten des Landes schwe­re Gefech­te tobten. Dort kämpf­ten in der Stadt Sjewjer­odo­nezk im Donbass russi­sche und ukrai­ni­sche Solda­ten weiter um jeden Straßen­zug. Zugleich beobach­te­te das ukrai­ni­sche Militär nach eigenen Angaben eine Ansamm­lung russi­scher Truppen, die anschei­nend die Stadt Slowjansk angrei­fen sollen.

100 Worte zur bitte­ren Kriegserfahrung

«Vor genau 100 Tagen sind wir in einer neuen Reali­tät aufge­wacht», sagte Selen­skyj in der Anspra­che. Er beschrieb die Erfah­rung des Krieges anhand von 100 Wörtern, die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner hätten lernen müssen.

Dazu zählten schreck­li­che Begrif­fe wie Raketen­tref­fer, Ruinen, Depor­ta­ti­on. Mit Kriegs­gräu­eln verbun­de­ne Ortsna­men seien dazuge­kom­men wie Hosto­mel, Butscha oder Mariu­pol, die Bezeich­nun­gen russi­scher, ukrai­ni­scher und auslän­di­scher Waffen­sys­te­me. Aber es gebe auch positi­ve besetz­te Worte: Wieder­auf­bau, Rückkehr, Befreiung.

Vor dem Angriff habe die russi­sche Armee den Ruf als zweit­stärks­te der Welt gehabt, sagte Selen­skyj. «Was ist von ihr geblie­ben?», fragte er: «Kriegs­ver­bre­chen, Schan­de und Hass.» Die Ukrai­ne aber habe bestan­den, sie bestehe und werde bestehen.

Guter­res fordert Ende der Gewalt in der Ukraine

UN-General­se­kre­tär António Guter­res forder­te unter­des­sen ein sofor­ti­ges Ende der Gewalt. Zudem beton­te er in einer Mittei­lung von Freitag (Ortszeit), eine Lösung des Konflikts erfor­de­re Verhand­lun­gen und Dialog. Die Verein­ten Natio­nen würden all solche Bemühun­gen unter­stüt­zen. «Je eher sich die Partei­en aufrich­tig um eine Beendi­gung dieses Krieges bemühen, desto besser für die Ukrai­ne, Russland und die Welt», schrieb Guterres.

Guter­res forder­te ungehin­der­ten Zugang humani­tä­rer Helfer zu allen Bedürf­ti­gen. Zudem sollten in den Kampf­ge­bie­ten einge­schlos­se­ne Zivilis­ten evaku­iert, die Zivil­be­völ­ke­rung geschützt und die Menschen­rech­te im Einklang mit den inter­na­tio­na­len Normen geach­tet werden, so Guterres.

Die nächs­te Schlacht im Donbass?

Beim Kampf um die Stadt Sjewjer­odo­nezk im ostukrai­ni­schen Gebiet Luhansk setzte Russland die Angrif­fe nach ukrai­ni­schen Angaben mit Hilfe frischer Reser­ven fort. «Mit Artil­le­rie­un­ter­stüt­zung führt der Feind Sturm­hand­lun­gen in der Ortschaft Sjewjer­odo­nezk durch, hat seine Gruppie­rung mit der mobilen Reser­ve des 2. Armee­kor­pus verstärkt, die Kämpfe in der Stadt halten an», teilte der ukrai­ni­sche General­stab am Samstag in seinem Lagebe­richt mit.

Slowjansk gehört zum ostukrai­ni­schen Verwal­tungs­ge­biet Donezk, dessen vollstän­di­ge Erobe­rung sich Russland auf die Fahnen geschrie­ben hat. Die Stadt liegt außer­dem im Rückraum der seit Tagen umkämpf­ten Stadt Sjewjer­odo­nezk im Gebiet Luhansk.

Ukrai­ne will nur aus stärke­rer Positi­on verhandeln

Der Kiewer Chefun­ter­händ­ler Aracha­mi­ja sagte im ukrai­ni­schen Fernse­hen: «Die Verhand­lun­gen sollen fortge­setzt werden, wenn unsere Verhand­lungs­po­si­ti­on gestärkt ist.» Die Ukrai­ne werde vor allem dadurch stärker, «dass die Waffen, die uns von inter­na­tio­na­len Partnern ständig verspro­chen werden, endlich in ausrei­chen­der Menge eintreffen».

Der Frakti­ons­vor­sit­zen­de der Präsi­den­ten­par­tei Diener des Volkes hatte die Kiewer Delega­ti­on in Gesprä­chen mit Russland in den ersten Wochen des Krieges geführt. Der Kontakt verebb­te aber, als nach dem Abzug russi­scher Solda­ten Gräuel­ta­ten in Kiewer Voror­ten wie Butscha bekannt wurden. Selen­skyj will erst wieder verhan­deln, wenn russi­sche Truppen sich auf ihre Positio­nen vor Kriegs­be­ginn zurück­zie­hen. Er will auch mit Putin direkt sprechen, was Russland bislang ablehnt.

Die USA, Großbri­tan­ni­en und europäi­sche Verbün­de­te haben einem CNN-Bericht zufol­ge in den vergan­ge­nen Wochen darüber beraten, wie der Krieg durch eine ausge­han­del­te Lösung beendet werden könnte. Dabei ging es den Angaben nach auch um einen Vorschlag, den Itali­en im Mai unter­brei­tet hatte.

Danach sollte die Ukrai­ne militä­risch neutral bleiben, also nicht der Nato beitre­ten und im Gegen­zug Sicher­heits­ga­ran­tien bekom­men. Über die von Russland annek­tier­te Halbin­sel Krim und die Separa­tis­ten­ge­bie­te im Donbass sollten Kiew und Moskau sich in Verhand­lun­gen einigen.

Afrika­ni­sche Union dringt auf Ende der Getreideblockade

Eine Folge des Krieges ist der Ausfall ukrai­ni­scher Getrei­de­lie­fe­run­gen, der vor allem in Afrika zu Hungers­nö­ten zu führen droht. Der Präsi­dent der Afrika­ni­schen Union (AU), Macky Sall, pochte bei einem Treffen mit Putin darauf, die Blocka­de der Ausfuh­ren zu beenden. Seiner Inter­pre­ta­ti­on des Gesprächs nach zeigte sich Putin bereit, den Export von Weizen und Dünge­mit­teln auf den afrika­ni­schen Konti­nent zu gewährleisten.

Putin wies jede Verant­wor­tung für die Getrei­de­knapp­heit auf dem Weltmarkt zurück. Die Krise habe schon vor dem Krieg begon­nen, der nach offizi­el­ler Sprach­re­ge­lung in Russland militä­ri­sche Spezi­al­ope­ra­ti­on genannt wird. Nicht sein Land verhin­de­re einen Export von Weizen aus der Ukrai­ne, sagte Putin im Fernse­hen. Die Ukrai­ne solle die Minen vor ihren Häfen an der Schwarz­meer-Küste entfer­nen. Die russi­sche Armee werde dies nicht für Angrif­fe ausnut­zen, versprach er.

Der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba sagte, die Ukrai­ne sei bereit, wieder Getrei­de über den Hafen Odessa zu expor­tie­ren. Es gebe aber keine Garan­tie Russlands, dies nicht zu einem Angriff zu nutzen. «Wir suchen Lösun­gen mit den UN und anderen Partnern.»

Das bringt der Tag

Der russi­sche Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow wird zu einem Besuch in Belgrad erwar­tet — der Haupt­stadt Serbi­ens, das seit den 1990er Jahren enge Bezie­hun­gen zu Russland pflegt.

Bei Energie­trä­gern wie Gas und Öl ist das Balkan­land stark abhän­gig von der östli­chen Großmacht. Den EU-Sanktio­nen gegen Russland schloss es sich bisher nicht an. Die Europäi­sche Union wieder­um sieht den engen Draht des Beitritts­kan­di­da­ten Serbi­en nach Moskau mit Argwohn.