KIEW/MOSKAU (dpa) — Heute ist für die Ukrai­ne der 131. Kriegs­tag. Die Russen rücken nach der Einnah­me von Lyssytschansk auf das nächs­te Ziel vor. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Nach der Einnah­me der einsti­gen Großstadt Lyssytschansk im Osten der Ukrai­ne rücken die russi­schen Truppen auf das nächs­te Ziel vor, den Ballungs­raum um Slowjansk.

«In Richtung Slowjansk versu­chen die Russen, die Kontrol­le über die Ortschaf­ten Bohoro­dyt­sch­ne, Dolyna und Masaniw­ka herzu­stel­len», teilte der ukrai­ni­sche General­stab in Kiew mit. Die drei Ortschaf­ten liegen weniger als 20 Kilome­ter im Norden und Nordos­ten von Slowjansk, auf der Südsei­te des Flusses Siwers­kyj Donez.

Von Osten herha­ben die russi­schen Truppen nach diesen Angaben ebenfalls den Siwers­kyj Donez überquert, der in der Region in einem Bogen verläuft. Dort versu­che der Feind die ukrai­ni­schen Kräfte auf eine neue Vertei­di­gungs­li­nie zwischen Siwersk, Soledar und Bachmut zurück­zu­drän­gen, hieß es in dem Lagebe­richt. Diese drei Städte liegen etwa 30 bis 40 Kilome­ter östlich vom Ballungs­raum Slowjansk-Krama­torsk, der als Haupt­quar­tier der ukrai­ni­schen Vertei­di­gungs­kräf­te im Donbass gilt.

An anderen Front­ab­schnit­ten, sowohl im Norden um die Millio­nen­stadt Charkiw als auch im Süden in den Schwarz­meer­re­gio­nen Saporischschja, Cherson und Mykola­jiw gab es nach ukrai­ni­schen Angaben trotz schwe­rer Artil­le­rie­ge­fech­te keine nennens­wer­ten Truppen­be­we­gun­gen. Unabhän­gig lassen sich die Angaben nicht überprü­fen. Russland hatte am Sonntag nach wochen­lan­gen Kämpfen erklärt, die Stadt Lyssytschansk einge­nom­men zu haben. Die Ukrai­ne bestä­tig­te am Abend, dass sich ihre dorti­gen Truppen zurückziehen.

Armee: Rückzug zum Schutz der Soldaten

Die ukrai­ni­sche Armee teilte mit, sie sei mit dem Rückzug aus Lyssytschansk einem Einkes­seln zuvor­ge­kom­men. «Russland hat einen großen Vorteil in der Infan­te­rie und in der Artil­le­rie», teilte das Militär in Kiew mit. Der Rückzug sei zum Schutz der Solda­ten erfolgt. «Wir holen alles zurück, wir bauen alles wieder auf.»

Russland hatte zuvor gemel­det, dass es die Stadt einge­nom­men habe. Lyssytschansk war die letzte größe­re Basti­on der Ukrai­ner im Gebiet Luhansk. Dessen Erobe­rung gehört zu den von Russland benann­ten Kriegs­zie­len. Die Angaben aus den Kampf­ge­bie­ten lassen sich unabhän­gig kaum prüfen.

Präsi­dent Selen­skyj sagte, die ukrai­ni­sche Armee bewege sich vorwärts — sowohl im Gebiet Charkiw im Osten, als auch im Gebiet Cherson im Süden und auf dem Schwar­zen Meer. Die jüngst wieder­erlang­te Schlan­gen­in­sel sei ein gutes Beispiel dafür. «Es wird einen Tag geben, an dem wir dassel­be über den Donbass sagen werden», meinte er. «Die Ukrai­ne gibt nichts verloren.»

Nur noch etwa 10.000 Zivilis­ten in Lyssytschansk

In der von Russland erober­ten Stadt Lyssytschansk sind nach ukrai­ni­schen Angaben von einst­mals mehr als 100.000 Einwoh­nern nur noch wenige Tausend übrig geblie­ben. Der Militär­gou­ver­neur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, nannte im ukrai­ni­schen Fernse­hen eine Größen­ord­nung von etwa 10.000.

In der Nachbar­stadt Sjewjer­odo­nezk, die sich ebenfalls unter russi­scher Kontrol­le befin­det, seien nur noch etwa 8000 Menschen verblie­ben. Auch dort lebten vor Beginn des Krieg mehr als 100.000.

Tote und Verletz­te durch Beschuss

Bei Raketen­an­grif­fen auf die ostukrai­ni­sche Stadt Slowjansk wurden Bürger­meis­ter Wadym Ljach zufol­ge sechs Menschen getötet und 15 verwun­det. Ljach nannte die Attacke den «schwers­ten Angriff in jüngs­ter Zeit» auf die Großstadt in der Region Donezk.

Unter den Toten sei ein Kind. Ljach zufol­ge wurden zivile Objek­te getrof­fen — keine militä­ri­schen Einrich­tun­gen. Beim Beschuss des ostukrai­ni­schen Gebiets Charkiw wurden dem regio­na­len Befehls­ha­ber Oleg Sinegu­bow zufol­ge drei Menschen getötet und einer verletzt.

Hofrei­ter: Zumin­dest gepan­zer­te Fahrzeu­ge liefern

Mit Blick auf die russi­sche Offen­si­ve forder­te der Vorsit­zen­de des EU-Ausschus­ses im Bundes­tag, Anton Hofrei­ter (Grüne), die Bundes­re­gie­rung auf, Schüt­zen­pan­zer oder zumin­dest gepan­zer­te Fahrzeu­ge ins Kriegs­ge­biet zu liefern.

Dies sei angesichts des massi­ven Vorge­hens Russlands im Osten der Ukrai­ne dringend geboten, sagte er der «Bild»-Zeitung. Gepan­zer­te Fahrzeu­ge wie zum Beispiel «Marder», «Fuchs» oder «Dingo» könnten hier ungezähl­te Leben retten.

Selen­skyj trifft IOC-Chef Bach

Präsi­dent Selen­skyj begrüß­te bei einem Treffen mit IOC-Präsi­dent Thomas Bach in Kiew den Ausschluss russi­scher und belarus­si­scher Sport­ler aus vielen Turnie­ren. «Man darf nicht zulas­sen, dass ein Terror­staat den Sport nutzt, um seine politi­schen Inter­es­sen und Propa­gan­da zu fördern», sagte er einer Mittei­lung zufolge.

Er sei Bach für seine «unerschüt­ter­li­che Positi­on» bei diesem Thema dankbar. «Während Russland versucht, das ukrai­ni­sche Volk zu zerstö­ren und andere Länder Europas zu erobern, haben seine Vertre­ter keinen Platz in der Sport­ge­mein­schaft der Welt», beton­te Selenskyj.

Keine Glück­wün­sche von Putin

Aus Ärger über die aus seiner Sicht russland­feind­li­che US-Politik gratu­liert Kreml­chef Wladi­mir Putin seinem Kolle­gen Joe Biden in diesem Jahr nicht zum ameri­ka­ni­schen Unabhän­gig­keits­tag. «Nein, dieses Jahr wird kein Glück­wunsch-Telegram verschickt werden», sagte Kreml­spre­cher Dmitri Peskow der Agentur Inter­fax zufolge.

«Das hängt damit zusam­men, dass dieses Jahr zum Höhepunkt einer unfreund­li­chen Politik der Verei­nig­ten Staaten gegen­über unserem Land gewor­den ist», sagte er mit Blick auf den ameri­ka­ni­schen Feier­tag am 4. Juli. «Daher kann es unter diesen Umstän­den kaum als angemes­sen angese­hen werden, eine solche Glück­wunsch­bot­schaft zu senden.»

Die Bezie­hun­gen zwischen Russland und den USA, die bereits in den vergan­ge­nen Jahren schlecht waren, sind seit Russlands Angriff auf die Ukrai­ne Ende Febru­ar auf einem Tiefpunkt. Ungeach­tet der eigenen Aggres­si­on gegen das Nachbar­land stellt sich Moskau seit Wochen in erster Linie als Opfer angeb­lich russland­feind­li­cher Politik aus dem Ausland dar.

Das wird heute wichtig

Angesichts der massi­ven Kriegs­schä­den in der Ukrai­ne wollen 40 poten­zi­el­le Geber­län­der zu einer Wieder­auf­bau-Konfe­renz im schwei­ze­ri­schen Lugano zusam­men­kom­men. Die Regie­rung von Präsi­dent Selen­skyj will dabei ihre Priori­tä­ten vorstellen.

Um die Ukrai­ne soll es am Abend auch bei einem Treffen von Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) und Frank­reichs Präsi­dent Emmanu­el Macron in Paris gehen.