KIEW (dpa) — Seit 183 Tagen wehrt sich die Ukrai­ne gegen die russi­sche Invasi­on. Am Natio­nal­fei­er­tag sterben bei einem Raketen­an­griff auf einen Perso­nen­zug mindes­tens 22 Menschen. Das Kriegs­ge­sche­hen im Überblick.

Nach ihrem Unabhän­gig­keits­tag trauert die Ukrai­ne um die vielen Todes­op­fer eines russi­schen Raketen­an­griffs auf einen Perso­nen­zug. Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj sprach am späten Mittwoch­abend von mindes­tens 22 Toten.

Der Zug war nahe dem Ort Tschap­ly­ne im zentralukrai­ni­schen Gebiet Dnipro­pe­trowsk getrof­fen worden. «Tschap­ly­ne ist heute unser Schmerz», sagte Selen­skyj. Wie vorher befürch­tet gab es am Feier­tag, einem symbol­träch­ti­gen Datum ein halbes Jahr nach Kriegs­be­ginn, auch an anderen Stellen des Landes schwe­re russi­sche Angrif­fe mit Raketen und Marschflugkörpern.

Die Ukrai­ne hatte am Mittwoch den 31. Jahres­tag ihrer Unabhän­gig­keit von der Sowjet­uni­on began­gen. Die USA sagten der Ukrai­ne an diesem histo­ri­schen Datum Militär­hil­fen für drei Milli­ar­den US-Dollar (rund drei Milli­ar­den Euro) zu. Das Paket soll zur Vertei­di­gung der Ukrai­ne und zur Moder­ni­sie­rung ihrer Armee dienen. US-Präsi­dent Joe Biden will in einem Telefo­nat mit Selen­skyj heute Einzel­hei­ten bespre­chen. Für die Ukrai­ne ist es der 183. Tag des Krieges.

Selen­skyj: Die Ukrai­ne wird ewig bestehen

«Unsere Unabhän­gig­keit endet nicht und wird niemals enden», sagte Selen­skyj in einer Video­an­spra­che. Trotz der bedroh­li­chen Lage werde es auch einen 32. Unabhän­gig­keits­tag und einen 33. und alle folgen­den geben. «Die Ukrai­ne wird ewig bestehen.»

Angesichts der Gefahr russi­scher Angrif­fe waren die sonst üblichen Militär­pa­ra­den am Feier­tag abgesagt worden. Auf der Haupt­stra­ße Chres­cht­scha­tyk in Kiew wurden statt­des­sen zerstör­te russi­sche Panzer und anderes erbeu­te­tes Kriegs­ge­rät zur Schau gestellt. Viele Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner sahen sich das an. Der briti­sche Premier­mi­nis­ter Boris Johnson kam zu seinem dritten Besuch während des Krieges nach Kiew. Solida­ri­tät mit dem angegrif­fe­nen Land zeigten auch Tausen­de Menschen in deutschen Städten und vielen anderen Orten der Welt.

Auch wenn Russland es per Antrag zu verhin­dern versuch­te, sprach Selen­skyj per Video­schal­te zum UN-Sicher­heits­rat in New York. Er beton­te die globa­le Bedeu­tung des Abwehr­kamp­fes gegen die russi­sche Invasi­on. «Heute feiert unser Land den Unabhän­gig­keits­tag, und jetzt kann jeder sehen, wie sehr die Welt von unserer Unabhän­gig­keit abhän­gig ist», sagte Selen­skyj. Wenn Russland jetzt nicht aufge­hal­ten werde, «werden russi­sche Mörder wahrschein­lich in anderen Ländern landen — in Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika».

Erster Angriff auf einen Personenzug

In dem halben Jahr seit dem Einmarsch in die Ukrai­ne haben russi­sche Truppen oft Eisen­bahn­an­la­gen beschos­sen, um ukrai­ni­sche Nachschub­we­ge zu unter­bre­chen. Im April wurden bei einem Raketen­tref­fer auf den Bahnhofs­vor­platz von Krama­torsk im Donbass nach ukrai­ni­schen Angaben 57 Menschen getötet. Bei Tschap­ly­ne wurde aber wohl zum ersten Mal ein Perso­nen­zug getrof­fen. Erste noch nicht verifi­zier­te Bilder zeigten mehre­re ausge­brann­te Waggons auf einem Bahndamm. Zu den 22 Toten rechne­te Selen­skyj auch fünf Opfer, die in einem Auto nahe der Gleise ums Leben gekom­men waren.

In einem anderen Ort des Gebie­tes Dnipro­pe­trowsk wurde nach Angaben der Gebiets­ver­wal­tung ein elfjäh­ri­ges Kind durch Beschuss getötet. Dabei hatte der russi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Sergej Schoi­gu am Mittwoch gesagt, seine Armee habe ihre Angrif­fe verlang­samt, um die ukrai­ni­sche Zivil­be­völ­ke­rung zu schonen.

Den Feier­tag über herrsch­te in der Ukrai­ne immer wieder Luftalarm. Im Gebiet Chmel­nyz­kyj im Westen des Landes waren nachmit­tags schwe­re Explo­sio­nen zu hören, wie Gouver­neur Serhij Hamalij mitteil­te. Wenige Minuten zuvor hatten opposi­tio­nel­le belarus­si­sche Aktivis­ten angeb­lich den Abschuss von vier Raketen aus Belarus regis­triert. Auch zwei russi­sche Bomber seien von dort gestar­tet. Die Angaben ließen sich nicht unabhän­gig überprü­fen. Macht­ha­ber Alexan­der Lukaschen­ko stellt Belarus den russi­schen Truppen als Aufmarsch­ge­biet zur Verfü­gung. Die ukrai­ni­sche Armee griff ihrer­seits russi­sche Muniti­ons­de­pots hinter der Front an.

Rüstungs­hil­fe für drei Milli­ar­den US-Dollar

Mit dem Geld aus dem neuen US-Rüstungs­pa­ket könne die Ukrai­ne Luftab­wehr­sys­te­me, Artil­le­rie­sys­te­me und Muniti­on sowie Drohnen und Radar­ge­rä­te erwer­ben, «um sich langfris­tig vertei­di­gen zu können», sagte Biden. Der US-Präsi­dent gratu­lier­te der Ukrai­ne zu ihrem Jahres­tag. Dieser zeige, «dass die Ukrai­ne stolz darauf ist, eine souve­rä­ne und unabhän­gi­ge Nation zu sein — und es auch bleiben wird». Die Verei­nig­ten Staaten seien entschlos­sen, das ukrai­ni­sche Volk im Kampf um die Vertei­di­gung seiner Souve­rä­ni­tät zu unterstützen.

Russlands Präsi­dent Wladi­mir Putin schei­ne zu glauben, dass sein Land mit dem stärke­ren Kampfes­wil­len über die Ukrai­ne und die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft trium­phie­ren könne, sagte ein Sprecher des US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums. «Dieses US-Paket ist ein greif­ba­rer Beweis dafür, dass dies eine weite­re russi­sche Fehlkal­ku­la­ti­on ist.»

Baerbock: Haben Vertrau­en in Osteu­ro­pa verspielt

Der Unabhän­gig­keits­tag sei ein Anlass zu prüfen, wie die Ukrai­ne unter­stützt werden könne, sagte Bundes­au­ßen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock (Grüne) dem ZDF-«Heute-Journal». Neue Waffen­lie­fe­run­gen aus Deutsch­land beweg­ten sich aber auf einem «schma­len Grat», denn die Bundes­wehr sei selbst mangel­haft ausgerüstet.

Baerbock gestand ein, dass Deutsch­land durch die Zöger­lich­keit bei der Hilfe für Kiew Ansehen bei seinen osteu­ro­päi­schen Nachbarn verspielt habe. Auch das Behar­ren auf der Fertig­stel­lung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 habe Porzel­lan zerschla­gen. «Mit dem Festhal­ten an Nord Stream 2 haben wir nicht auf die Sorgen unserer balti­schen und osteu­ro­päi­schen Freun­de gehört», sagte die Ministerin.

Das wird heute wichtig

Die Inter­na­tio­na­le Kampa­gne für das Verbot von Landmi­nen und Streu­mu­ni­ti­on (ICBL-CMC) stellt in Genf ihren Jahres­be­richt zum Einsatz von Streu­mu­ni­ti­on vor. Gemeint sind Geschos­se, die kurz vor dem Aufschlag viele kleine Spreng­kör­per freiset­zen, die sich vertei­len und eine unkon­trol­lier­ba­re Gefahr für Menschen bedeu­ten. Russland hat nach ersten Erkennt­nis­sen der Organi­sa­ti­on solche Muniti­on auch in der Ukrai­ne eingesetzt.