KIEW/MOSKAU (dpa) — Von der Ukrai­ne gibt es eine Schät­zung zur Zahl der getöte­ten Solda­ten und Verstim­mung wegen einer Biden-Aussa­ge. Die Kämpfe in der Ostukrai­ne gehen weiter. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

In gut dreiein­halb Monaten des russi­schen Angriffs­krie­ges sind nach Regie­rungs­an­ga­ben etwa 10.000 ukrai­ni­sche Solda­ten getötet worden. Ein Berater von Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj machte die Zahl in der Nacht zum Samstag öffentlich.

In der Ostukrai­ne gehen unter­des­sen die Kämpfe ohne große Verän­de­run­gen des Front­ver­laufs weiter. Die ukrai­ni­sche Seite spricht von Erfol­gen ihrer Artil­le­rie dank westli­cher Muniti­on — und appel­liert, das Tempo der Waffen­lie­fe­run­gen zu erhöhen.

«Russland will jede Stadt im Donbass zerstö­ren, «jede» ist keine Übertrei­bung. Wie Wolno­wacha, wie Mariu­pol», sagte Selen­skyj in seiner Video­an­spra­che. «All diese Ruinen in einst glück­li­chen Städten, schwar­ze Spuren von Bränden, Krater von Explo­sio­nen — das ist alles, was Russland seinen Nachbarn, Europa und der Welt geben kann.»

Biden: «Selen­skyj wollte nicht hören»

Die politi­sche Führung in Kiew hat verstimmt auf Äußerun­gen US-Präsi­dent Joe Biden reagiert, wonach der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj vor Kriegs­be­ginn die von Russland ausge­hen­de Gefahr nicht ernst genug genom­men haben soll. Bei einer Fundrai­ser-Veran­stal­tung am Freitag­abend in Los Angeles hatte Biden gesagt, es habe bereits vor dem 24. Febru­ar Bewei­se dafür gegeben, dass Kreml­chef Wladi­mir Putin die Ukrai­ne überfal­len wolle. Dann fügte er hinzu: «Es gab keinen Zweifel. Und Selen­skyj wollte es nicht hören — viele Leute wollten es nicht.»

«Die Phrase “wollte nicht hören” bedarf sicher­lich einer Erläu­te­rung», sagte am Samstag der ukrai­ni­sche Präsi­den­ten­spre­cher Serhij Nykyfo­row. Selen­skyj habe die inter­na­tio­na­len Partner immer wieder dazu aufge­ru­fen, präven­tiv Sanktio­nen zu verhän­gen, um Russland zu einem Abzug der damals bereits in der Grenz­re­gi­on zur Ukrai­ne statio­nier­ten Truppen zu zwingen, sagte Nykyfo­row der Online­zei­tung Liga.net. «Und hier kann man schon sagen, dass unsere Partner “uns nicht hören wollten”», sagte er.

Hefti­ge Kämpfe um Sjewjerodonezk

Ukrai­ner und Russen liefern sich nach Angaben der briti­schen Regie­rung hefti­ge Straßen­kämp­fe um die ostukrai­ni­sche Großstadt Sjewjer­odo­nezk. Beide Seiten dürften wahrschein­lich eine hohe Zahl an Opfern erlei­den, schrieb das briti­sche Verteidigungsministerium.

Außer­dem melde­ten die Briten, die russi­schen Luftstreit­kräf­te hätten mangels moder­ne­rer Waffen seit April Dutzen­de alte, unprä­zi­se Schiffs­ab­wehr­ra­ke­ten gegen Ziele an Land verwen­det. Die Geschos­se vom Typ Kh-22 stamm­ten aus den 1960er Jahren und seien eigent­lich dafür entwi­ckelt worden, Flugzeug­trä­ger mit einem Atomspreng­kopf zu zerstören.

Erste Angaben zu ukrai­ni­schen Verlus­ten seit Monaten

Die Zahl von rund 10.000 getöte­ten ukrai­ni­schen Solda­ten stammt vom Präsi­den­ten-Berater Olexij Aresto­wytsch. Er nannte sie in einem seiner regel­mä­ßi­gen Youtube-Video­in­ter­views mit dem russi­schen Opposi­tio­nel­len Mark Feygin. Diese Woche hatte Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Olexij Resni­kow bereits gesagt, dass aktuell täglich bis zu 100 ukrai­ni­sche Solda­ten getötet würden. Aresto­wytsch beton­te, dass auf ukrai­ni­scher Seite auch zu Beginn des Krieges rund 100 Militär­an­ge­hö­ri­ge pro Tag gestor­ben seien. Auf Feygins Frage, ob man also von rund 10.000 getöte­ten Solda­ten insge­samt ausge­hen könne, antwor­te­te er: «Ja, so in etwa.»

Weder von der Ukrai­ne noch von Russland gab es bisher erschöp­fen­de Angaben zu den Verlus­ten in dem am 24. Febru­ar begon­ne­nen Krieg. Selen­skyj hatte zuletzt Mitte April in einem CNN-Inter­view von bis zu 3000 getöte­ten Solda­ten gesprochen.

Dring­li­cher Ruf nach schnel­le­ren Waffenlieferungen

Laut Aresto­wytsch werden dauer­haft mehr russi­sche als ukrai­ni­sche Solda­ten getötet. Am Freitag seien die Angrif­fe der ukrai­ni­schen Artil­le­rie mit westli­cher Muniti­on beson­ders effizi­ent gewesen, sagte er und gab die Schät­zung von rund 600 getöte­ten russi­schen Solda­ten ab. Mit Blick darauf appel­lier­te der Selen­skyj-Berater an den Westen, viel schnel­ler Waffen und Muniti­on zu liefern. Die ukrai­ni­sche Regie­rung sei zwar für die bishe­ri­ge Hilfe sehr dankbar, ohne die man vermut­lich bereits hinter den Dnipro-Fluss zurück­ge­drängt worden wäre. Er verste­he aber die Langsam­keit bei den Liefe­run­gen nicht. Um die russi­sche Aggres­si­on zurück­zu­schla­gen, brauche die Ukrai­ne unter anderem schnell mehr Artil­le­rie-Feuer­kraft, beton­te Arestowytch.

Polen wirft der Bundes­re­gie­rung derweil mangeln­des Engage­ment bei der verspro­che­nen Liefe­rung von Panzern vor. «Die Gesprä­che sind ins Stocken geraten. Man sieht keinen guten Willen, hoffen wir, dass sich das ändert», sagte der Chef des Natio­na­len Sicher­heits­bü­ros beim Präsi­den­ten, Pawel Soloch, am Samstag dem Sender Radio Rmf.fm. Die Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­en seien dazu im Kontakt.

Selen­skyj warnt vor Hungerrevolten

Selen­skyj warnt vor weltwei­ten Hunger­re­vol­ten. «Wenn wir unsere Lebens­mit­tel nicht expor­tie­ren können, dann wird die Welt mit einer schwe­ren Lebens­mit­tel­kri­se und Hunger in vielen Ländern Asiens und Afrikas konfron­tiert werden», sagte der 44-Jähri­ge vor Besuchern des Sicher­heits­fo­rums «Shangri La Dialo­gue» in Singa­pur, dem er am Samstag per Video zugeschal­tet war. Der Lebens­mit­tel­man­gel könne zu politi­schem Chaos und dem Sturz von Regie­run­gen vieler Länder führen.

Faktisch blockiert die russi­sche Marine seit Beginn des Angriffs­kriegs vor mehr als drei Monaten die ukrai­ni­schen Schwarz­meer-Häfen oder hat die Häfen in Mariu­pol oder Cherson besetzt. Die Ukrai­ne, weltweit der viert­größ­te Getrei­de­ex­por­teur, sitzt deshalb auf den eigenen Vorrä­ten fest. Außer­dem wirft die Ukrai­ne Russland den Diebstahl von großen Mengen Getrei­de vor.

Russland händigt in ukrai­ni­schem Gebiet Pässe aus

Russland setzt seine Versu­che fort, besetz­te ukrai­ni­sche Gebie­te enger an sich zu binden. In den von russi­schen Truppen kontrol­lier­ten Teilen der Region Saporischschja sollen von Samstag an russi­sche Pässe ausge­hän­digt werden. Die Empfän­ger würden danach als vollwer­ti­ge Bürger Russlands betrach­tet, sagte ein Mitglied der Besat­zungs­be­hör­den, Wladi­mir Rogow, dem Fernseh­sen­der Rossi­ja-24. Ihm zufol­ge haben dort mehr als 70.000 Menschen Anträ­ge gestellt.

Ukrai­ni­sche Behör­den werfen den Besat­zern vor, Menschen in die russi­sche Staats­bür­ger­schaft zu drängen und befürch­ten eine Annexi­on der besetz­ten Gebie­te. Laut Aresto­wytsch wurde im besetz­ten Gebiet Cherson ein russi­scher General getötet, der eine Volks­ab­stim­mung über einen Anschluss an Russland habe durch­füh­ren sollen. Laut der russi­schen Nachrich­ten­agen­tur Tass erhiel­ten in den vergan­ge­nen drei Jahren mehr als 800.000 Menschen die russi­sche Staats­bür­ger­schaft auf verein­fach­tem Weg. Nur knapp ein Prozent der Anträ­ge von Bewoh­nern der selbst ernann­ten Volks­re­pu­bli­ken Luhansk und Donezk sei abgelehnt worden, melde­te Tass unter Berufung auf das Innen­mi­nis­te­ri­um in Moskau.